Das Schwestervolk

 

Als die Erde unter ihr bebte, hörte sie auf. Ihre Arbeit war beendet. Sie hatte die Hölle versiegelt in ihrem Inneren. Sie stand auf. Es schüttelte sie vor Kälte. Sie schleppte sich zu dem großen Stein, dem Wächter, der die ganze Zeit über Zeuge gewesen war und lehnte sich daran. Er schien warm zu sein, was seltsam war für einen Stein zu dieser Jahreszeit.

 

Sie zog sich die Decke über die Schultern und schloss die Augen.

Den Himmel hatte sie beschützen wollen – und nun wusste sie nicht, ob sie nicht auch ihn für immer verloren hatte.

 

Aren war gekommen, ihr Freund und Geliebter aus alten Tagen. Sie kannten sich seit ihrer Jugendzeit, seit vor dieser Zeit vermutlich schon. Jetzt war er grau geworden, so grau wie sie. Sein Gang war gebeugt, aber seine schönen Augen blickten klar und gütig wie eh und je. Und sein Lächeln – wie hatte sie sein Lächeln geliebt, seit sie zurück denken konnte! Niemals hatte sie ein anderes Lächeln als dieses von ihm erhalten, so auch jetzt, als er vor ihr gestanden hatte. Dennoch hatte sie seine Besorgnis gesehen – hinter dem liebevollen Blick.

 

Sie hatten nie viel miteinander geredet. Über Unnötiges zu reden war nicht ihre Art und das Wesentliche hatte nie vieler Worte bedurft. So hatte sie ihm Tee vorgesetzt und gewartet. Sie hatte ihre Augen geschlossen, und ihn hinein genommen in die Wärme, die sie für ihn fühlte, für ihn und für alle hier. Von ihrer Wärme lebten sie. Sie hatte sie von ihm übernommen und führte sein Erbe weiter. So gab sie ihm zurück, was sie einmal von ihm empfangen hatte. Als sie aufsah, begegnete sie seinem Blick, der jetzt ernst geworden war. „Rur ist da“, sagte er nur. Sie zog so hörbar den Atem durch die Nase ein, dass es zischte. Er nickte. „Ich hatte es schon erwartet, wollte Dich aber nicht beunruhigen. Aber nun müssen wir uns etwas einfallen lassen.“

 

Rur war vor Aren da gewesen. Aren hatte von ihm gelernt, aber eines Tages war Rur einfach fort gewesen. Das war unüblich bei ihnen. Sie verschwanden nicht einfach. Hier war es so, dass sie blieben, bis ihr Ende gekommen war. Wenn jemand verschwand, ohne ein Wort, einfach fort ging, dann war das ein Alarmzeichen. Aren hatte seine Aufgabe weitergeführt und sie, Hir, auf die ihre vorbereitet, als wäre nichts vorgefallen, aber alle, auch das kleinste Kind, fühlte die Lücke. Sie waren miteinander verwandt, alle. Sie stammten voneinander ab, geistig, nicht physisch. Sie vererbten einander ihre Erinnerungen, ihre Freuden und Schmerzen, ihre Sehnsüchte und Ängsten und wählten in der Regel sorgfältig aus, was sie weiter gaben – niemand sollte unnötig belastet werden. Sie waren überaus bemüht, nur das weiter zu geben, was den Nachkommenden nützlich und zuträglich und erfreulich war, was stärkend, und weit in die Zukunft hinein förderlich war. Dies glückte nicht immer, aber das ehrliche Bemühen war das Wesentlichste. So war die Lücke, die Rur hinterlassen hatte, groß. Er war präsent in den Erinnerungen und Gefühlen, aber man wusste nicht, was aus ihm geworden war, konnte nicht mit ihm teilen, was er in seiner Abwesenheit erlebt hatte. Das war eine Situation, der niemand von ihnen vorher je begegnet war.

 

„Hast Du ihn schon gesehen?“ – „Ja, Aren nickte, „Er ist seit gestern Nacht in meinem Haus. Er sieht fürchterlich aus.“ Hir stand auf. „Ich muss ihn sehen.“ Sie musste immer alles mit ihren eigenen physischen Augen sehen, um sich ein Bild zu machen. Anders als viele Begabtere ihres Volkes war sie von praktischer Veranlagung, was vielen schon fast „fremd“ anmutete. Aren hatte diese Begabung im Laufe der Jahre schätzen gelernt.

Er trank seine Schale Tee noch aus, nickte ihr zu, und beide verließen das Haus. Sich so ungezwungen wie möglich benehmend gingen sie durch die Gassen zu seinem Gehöft, das etwas außerhalb stand. Es war groß, die Mauer darum war von Efeu behangen – schon von weitem bot es einen heimeligen, bergenden Anblick. Er warf ihr einen etwas besorgten Blick zu, bevor er die Tür öffnete. Er kannte ihre impulsive Art und wollte kein Unheil durch unüberlegte Worte heraufbeschwören.

Aber sie schwieg. Sie traten ein. Rur saß am Tisch, die Haare, die früher glänzend und lockig eines der schönsten Gesichter, die sie jemals gesehen hatte, umrahmt hatte, waren jetzt strähnig, sie sah kahle Stellen auf der Kopfhaut, die Gesichtshaut war von Narben übersät. Ein Auge war zugeschwollen. Geflissentlich übersah sie den Gehstock, der neben ihm lehnte. „Hallo Rur“, sagte sie leichthin, und setzte sich ihm gegenüber, damit sie ihn genauer betrachten konnte. Mehr traute sie sich nicht zu sagen, denn sie wollte behutsam sein. Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wer oder was diese Verunstaltungen und Verletzungen bei diesem Mann hervorgerufen haben mochten und wollte ihn – falls er ein Opfer anderer war – nicht noch durch ihre Reaktion zusätzlich Schmerz zufügen. „Hallo“, sagte er und der Blick mit dem er sie betrachtete, gefiel ihr gar nicht. Sie kannte ihn nur mit offenen Augen und geradem Blick. Hier war etwas, das neu an ihm war. „Hast Du etwas für mich zu trinken?“ fragte sie Aren, der schon dabei war, einige Schalen und Gläser zu füllen. Sie erriet, das Rur noch nichts über sein jahreslanges Ausbleiben erzählt hatte. „Du hast uns gefehlt“, sagte sie und sah ihn dabei an. Er grinste. „Immer noch so gefühlvoll?“ Sie schwieg. Und verbarg sich. Etwas war geschehen, und er durfte keine Ahnung haben, wer oder was sie in den Jahren seiner Abwesenheit geworden war. Es reichte schon, dass Aren sie mitgebracht hatte. Schon das konnte seine Aufmerksamkeit, eine, die sie nicht wollte, erregen. „Nun ja“, sagte sie leichthin, „so was ändert sich nicht allzu schnell.“ Ihr Gehirn und ihre Gefühle rasten. Wie hatte er sie noch gekannt? Unauffällig wurde sie wieder die, die sie gewesen zu sein glaubte, als er gegangen war: schön, naiv, gutgläubig und sehr anlehnungsbedürftig. Aren sah diesem Schauspiel gebannt zu.

 

„Wo warst Du?“ Sie hoffte, dass das Gurren in ihrer Stimme nicht zu übertrieben war. Aber er hörte es gar nicht. „In der Hölle!“ Sie hatte den richtigen Ton getroffen. „Rur!“ Mitgefühl schwang in ihrer Stimme, wenngleich der Verstand in höchster Alarmbereitschaft war. Er nickte. Aren sah diesem, Hirs, Schauspiel, zu. Er erkannte, was sie wagte, und welchen Weg sie ging. Er war um sie besorgt, aber sie konnte gewinnen. Er zog alle seine Energien in sich zurück und minderte auch die seines Gehirns auf ein Minimum. Dies hier war eine Sache zwischen Hir und Rur. Er war Nebensache und wollte so wenig wie möglich beachtet werden. Am besten war es, beide würden seine Anwesenheit vollständig vergessen. Hir bemerkte dies Manöver und hielt es für gut. Er würde schon einschreiten, wenn es nötig sein sollte.

 

„Ich war bei den Rockies“, sagte Rur in etwas angeberischem Ton. „Bei den Rockies!“ Hirs Stimme klang bewundernd, obgleich sie im Innersten entsetzt war.

 

Die Rockies waren das Nachbarvolk. Sie waren mit einander verwandt. Es hatte einmal eine Zeit gegeben, da hatte es überhaupt nur ein einziges Volk gegeben. Rur hatte diese Zeit noch erlebt, Aren vermutlich auch noch, aber sie, Hir nicht. Sie hatte die beiden Völker nur als Getrennte erlebt. Das bedeutete das Wort „Rockie“ auch in ihrer Sprache: „Die Fortgegangenen“. Sie selber bezeichneten sich als „Die Gebliebenen“.

 

Er war also bei den Rockies gewesen. „Wolltest Du die Versöhnung?“ Dunkel war ihr so, als hätte er dies immer gewollt. Er nickte „Ja! Und es könnte glücken. Aber es kostet einen Preis.“

 

Die beiden Völker hatten sich Laufe einiger Generationen auseinander entwickelt. Die Gebliebenen hatten ihre telepathischen Fähigkeiten weiter ausgebaut, hatten sorgfältig das Erbe und die Art, wie sie es weitergaben gepflegt. Sie waren Musiker und Dichter.

 

Die Rockies hatten, wie Hir gehört hatte, begonnen Handel zu treiben und ihre praktischen Veranlagungen weiter auszubauen. Ihre telepathischen Begabungen waren, wie sie gehört hatte nicht sehr weit fortgeschritten und von Musik oder Dichtung hatten sie keine Ahnung. Das alles war nicht schön, aber noch nicht bedenklich. Bedenklich und auch besorgniserregend war, dass sie gehört hatten, die Fortgegangenen würden mit Metallen handeln. Und mit Metallen konnte man allerlei Ungutes herstellen, wie Hir wusste.

 

„Was wollen sie?“ fragte Hir und wusste die Antwort schon, bevor sie gegeben wurde: „Dich!“ Jetzt war es also soweit. Das war der Moment, den sie immer befürchtet hatte. Sie sah zu Aren hinüber, und er bemerkte die Tränen in ihren Augen.

„Kommt nicht in Frage!“ Rur erschrak bei dieser energischen Stimme. Er hatte vollkommen vergessen, dass Aren mit am Tisch saß. Verflixt – konnte dieser Bursche immer noch zaubern?

 

„Ich werde darüber nachdenken“, sagte Hir, und stand auf. „Jetzt werde ich erst einmal schlafen gehen. War schön, Dich wieder gesehen zu haben, Rur.“ Aren erhob sich. „Ich bringe Dich noch heim, Hir.“ Als sie aus der Tür hinaus traten, war Rur schon eingeschlafen. Er hatte eindeutig zu viel erlebt und zuviel getrunken. Der Kopf lag auf dem Tisch und erst jetzt, in dieser Haltung, konnte man den goldenen Knopf sehen, der aus seinem Rückgrad herausragte. Er war ein Rockie geworden.

 

Tröstend legte Aren seinen Arm um Hirs Schulter. „Wir werden einen Weg finden“, sagte er. Hir schüttelte den Kopf. Zulange hatten sie alle die Augen verschlossen. Die Fortgegangenen und die Gebliebenen hatten nie gegeneinander gekämpft, jedenfalls nicht, dass sie wusste. Sie hatten immer irgendwie Seite an Seite in scheinbarem Frieden gelebt, weil es ein Pfand gegeben hatte: Sie, Hir. Es war schon so: die Gebliebenen waren friedliche Menschen, die dem Kampf und jedem, wirklich jeder Art von Streit aus dem Weg gingen. So schien es wenigstens. Aber Hir hatte schon seit einiger Zeit insgeheim überlegt, ob das tatsächlich stimmte. In der Tat hatten die Gebliebenen von den Rockies einen Preis gefordert, damit diese in Frieden ziehen konnten. Und sie, Hir, war der Preis gewesen. Ein Baby war sie gewesen, an ihre Eltern konnte sie sich nicht mehr erinnern. Und bei all den Schauergeschichten, die über die Rockies erzählt wurden, war sie bis heute froh darüber gewesen, nicht bei den Fortgegangenen aufgewachsen zu sein.  Rur und Aren hatten sie großgezogen, später nur noch Aren.

 

Jetzt näherten sie alle sich de Alter. Hir hatte sich selber schon eine Tochter erwählt, die sie schulte, und der sie einmal das Beste von sich vererben würde. Was, zum Himmel, sollte sie jetzt tun? Dies hier konnte alles durcheinander bringen!

 

Bislang war ihrer aller Leben geordnet gewesen, in Bahnen verlaufen, die jedem das Bestmöglichste gewährleistete.

Aber sie hatten auch mit einer Lüge gelebt, wenn auch mit einer winzig kleinen: dass sie, Hir, ein normales Mitglied des Volkes war und kein Pfand. Konnte es sein, dass so eine kleine Unwahrheit, eine winzige Verdrängung, Verdrehung, ihnen nun den Boden unter den Füssen fort ziehen konnte?

Schweigend waren sie gegangen, sie und Aren, bis zu Hirs kleinem Haus. Sie hatte Aren nichts von dem erzählt, was ihr durch den Kopf gegangen war. Sie wollte ihn nicht beunruhigen. Er mochte Spannungen nicht, mochte nicht, wenn sich etwas änderte. Er liebte Ruhe und Frieden, und sie mochte es ihm nicht nehmen. Aber die erinnerte sich auch daran, dass er Spannungen, wenn es sie denn einmal gab, durchaus gewachsen war.

 

„Kommst Du bitte noch mit hinein?“ Er seufzte und nickte. Dies konnte nicht gut ausgehen. Ihr Temperament, das sogar noch im Alter überschäumend war, hatte oft genug alles durcheinander gebracht. Er fürchtete, sie könne derart verletzt sein, durch das, was Rur gesagt hatte, dass sie unüberlegt handeln würde.

 

„Rur gefällt mir nicht“, sagte Hir, als sie am Tisch saßen und an ihrem Tee schlürften. Aren verbarg sein Gähnen. Er war so furchtbar müde. „Aber mir gefällt auch nicht, was wir getan haben.“ „Was wir getan haben?“ Jetzt war Aren wieder hellwach. Was, zum Himmel hatten sie denn getan? Gar nichts hatten sie getan! Die anderen waren es gewesen, die gegangen waren! Und Rur hatte sich eingemischt, mit einem Mal. „Wir waren nicht ehrlich, Aren“, sagte Hir. „Wir waren immer die Guten, erinnerst Du Dich? Aber ein Pfand zu nehmen ist nicht unbedingt ein Zeichen edlen Gemütes, oder?“ Aren schwieg. Dazu fiel ihm nichts ein. Damit hatte er nicht gerechnet. Er hatte gedacht, sie hätte es längst vergessen. Es war eine so schwierige Zeit gewesen damals.

Er entschloss sich, zu reden. Zum ersten Mal, seit sie sich kannten, redete er über das, was er erlebt hatte, er und Rur, damals.

 

„Sie wollten fort. Wir wollten sie nicht gehen lassen. Sie waren nicht mehr zufrieden mit der stillen Lebensweise. Sei wollten Abenteuer, etwas erleben. Es waren junge Männer und junge Frauen, beides. Einige Ältere waren auch dabei. Es waren Fehler gemacht worden schon Generationen vorher: Unzufriedenheit war zugedeckt, bemäntelt, verschweigen worden. Bis wir das Desaster dann hatten. Ich habe Dir nie erzählt, Hir, dass Du das Kind meiner Schwester bist, sie war die Frau von Rur. Esa heißt sie, falls sie noch lebt. Von Geburt an war beschlossen worden, dass du meine Nachfolge einmal antreten würdest. Esa hatte es geträumt, und auch mir waren die Zeichen gegeben worden. Alles stimmte überein. Und dann wollten Esa und Rur fort – mit Dir. Es war fürchterlich. Es kann immer nur eine Nachfolge geben. Es gibt niemals einen Ersatz. Wenn die Nachfolge verloren geht, ohne eine weitere bestimmt zu haben, stirbt das Volk. Vor der Situation standen wir damals, wir alle.

Ein Teil des Volkes wollte gehen und nahm den Tod in Kauf. Denn die Nachfolgerin warst Du. Ich weigerte mich, mit ihnen zu gehen, und Dich wollten wir nicht gehen lassen. Zwischen Esa und Rur kam es zu Auseinandersetzungen, wie Du sie noch nie erlebt hast.“ Hir wurde übel. Sie kannte Auseinandersetzungen nicht – schon gar nicht zwischen Liebenden. „Wir ließen die anderen schließlich ziehen, wie wir dachten, in den sicheren Tod. ‚Wenn keine Nachfolge da ist, stirbt das Volk’. Wir rechneten damit, dass die Hälfte des Volkes, die die gehen würde, dem Tod anheim fiele. Es war furchtbar. Esa und Rur trennten sich – Deinetwegen. Rur brachte es nicht über das Herz, Dich allein zu lassen, und Esa brachte es nicht über das Herz zu bleiben. Beide brachen damals innerlich entzwei.“

Jetzt weinte Hir. Das hatte sie nicht gewusst. Von all dem hatten sie sie verschont. Du lieber Himmel – und sie hatte gedacht, Aren wäre einer Auseinandersetzung mit ihr nicht gewachsen! Ihre Mutter, Esa - sie hatte sie nie gekannt. Und das Rur ihr Vater war – warum hatte ihr nie jemand das gesagt?

 

„Als Rur verschwand“, fuhr Aren mit Tränen in den Augen fort, „vermutete ich, dass er die Trennung von Esa nicht mehr aushielt und schauen wollte, was aus ihr geworden war. Sie war auch der Grund, warum er immer für Versöhnung war zwischen den Fortgegangenen und uns.“ Aren reichte Hir ein Taschentuch, bevor er fortfuhr: „Sie starben nicht. Du näherst Dich Deinem Alter, Du hast Deine Tochter schon bestimmt und immer noch gibt es dieses Schwestervolk. Und es gibt sie, obwohl keine Nachfolge bei ihnen war, als sie gingen. Ich weiß nicht, ob ihnen eine geboren worden ist, zwischenzeitlich, oder ob man tatsächlich auch ohne leben kann. Letzteres würde unser gesamtes Lebenskonzept über den Haufen werfen. Denn: wenn es auch ohne Dich oder mich geht – wozu sind wir dann da?“

 

Hir stockte der Atem. Bis dahin hatte sie noch überhaupt nicht gedacht. Immer wieder überraschte Aren sie mit seiner Weitsicht.

„Ich muss zu ihnen“, sagte Hir. „Ich muss sie kennen lernen. „Ja, sagte Aren, „Der Meinung bin ich schon lange. Aber ich wusste nicht, wie ich es Dir sagen sollte. Du musst sie kennen lernen. Und ich werde mit Dir gehen. Ruf Deine Tochter.“

 

Am Morgen, sehr früh, verließen zwei alte Männer und eine ältere Frau das Dorf. Die neue Führerin, Eri, hatte die Verantwortung nun übernommen und überall verkündet, Aren und Hir seinen krank, aber es würde sich hingebungsvoll um sie gekümmert. Eri hoffte, sie müsste nicht allzu lange lügen.

Sie war besorgt. Sobald jemand die Führung übernahm, war das ebenso Verantwortung wie eigenes Wachsen. Es endete, normalerweise, erst mit dem Tod. Entweder während des Sterbens oder kurz darauf wurde der Nachfolgerin/dem Nachfolger das Erbe vollständig übertragen mitsamt den noch notwendig Fähigkeiten, dem Segen und den Erinnerungen der vorigen Führer.

Wenn Hir jetzt schon ihr, Eri, die Führung übergeben hatte, war das bedeutungsvoll. Hir verzichtete damit auf ihr eigenes Amt, auch auf ihr eigenes inneres Wachstum damit. Eri besaß schon jetzt den Segen. Etwas sehr Schwerwiegendes musste vorgefallen sein.

 

Hir, Rur und Aren waren schon geraume Zeit unterwegs. Während Hir Eri instruiert, initiiert und ihr den Segen gegeben hatte, hatten Aren und Rur sich unterhalten. Sehr früh am Morgen waren sie aufgebrochen. Die meiste Zeit hatten sie geschwiegen. Der Weg war beschwerlich und erforderte ihre ganze Kraft. Dennoch wurden Worte gewechselt. Und mit ihnen wurde, nach und nach, ein Bild gemalt. Ein Bild, das Aren ansatzweise, Hir noch gar nicht kannte. Es war die Geschichte der Fortgegangenen.

 

Es hatte hässliche Szenen gegeben beim Abschied, Streit, wirkliche Tragödien hatten sich abgespielt, bei denen Familien wie z. B. die von Rur, Esa und Hir auseinander gebrochen waren.

Kämpfe hatte es gegeben, bei denen einige verletzt, zwei sogar getötet worden waren.

„Waffen? Wir hatten Waffen?!“ – „Ja“, Aren nickte ihr zu, „ja, Hir. Wir hatten einmal Waffen.“ Hir wurde klar, weshalb Metall bei ihnen so verpönt war. Ihr Herz zog sich zusammen, als sie sich die Szenen vergegenwärtigte, die sich abgespielt haben mussten. Und in der tiefen Abneigung gegen die Fortgegangenen, die Metalle besaßen, wurde ihr deutlich: hier spiegelte sich das Entsetzen wider, dass diese Metalle in Menschenhänden angerichtet hatten – und der nie ausgesprochene Schwur, nie wieder etwas Derartiges zuzulassen. Das also war es, weshalb sie, die Gebliebenen, Metalle nicht kannten, nicht nutzten, Hir nicht einmal wusste, dass sie jemals etwas Derartiges gekannt hatten. Sie wurde immer bedrückter. Wie einfach hatte die ganze Geschichte ausgesehen aus ihrer, der Daheimgeblieben Sicht – und wie kompliziert und vielschichtig war sie in Wirklichkeit.

 

Sie erfuhr von der langen Wanderung der Rockies, die beschwerlich war und Opfer gekostet hatte. Aber das war es nicht, was den Fortgegangenen den tiefsten Schmerz, die größte Angst bereitet hatte. Es war das Erbe gewesen. Sie waren gegangen ohne Führer, ohne dass jemand unter ihnen das Erbe zugesprochen, übernommen und angetreten hatte. Wie nur sollten sie überleben? Es wurde nie darüber gesprochen. Aber in aller Herzen nagte die Furcht.

 

Nach mehreren Monaten fanden sie ein Waldstück mit angrenzendem fruchtbar erscheinendem Land, das machten sie sich zu Eigen. Und eines der ersten Dinge, die sie taten, war, sich zusammen zusetzen, zu einer großen Versammlung, und ihre gemeinsame Zukunft zu besprechen.

Ihre Lage war verzweifelt.

Sie hatten Tote zu beklagen gehabt, und sie hatten keine Führung.

Schon eines war genug, um Schlimmes voraus zu ahnen – aber beides zusammen….

 

Sie fassten nach langen Besprechungen, hitzigen Debatten einen folgenschweren Entschluss. Es musste zum einen eine Führung gewählt werden. Zum anderen musste irgendeine Art von Eingriff erfolgen, der Gewalt in Zukunft verhinderte.

Die Lösung schien der Knopf im Rückgrad zu sein, den auch Rur trug.

 

Die erste Führerin wurde noch gewählt, die nächste schon wurde bei der Geburt durch Träume bestimmt, wie es immer schon üblich gewesen war. Und dann erfolgte im Kindesalter der Eingriff.

Der Knopf, der aus dem Rückgrad hervorguckte, verursachte Schmerzen. Sie waren mal stärker, mal schwächer, meist waren sie nicht so sehr stark. Wer aber immer den Knopf trug, war nie mehr in seinem Leben vollkommen ohne Schmerz. Es mochte nur wenig sein, minimal vielleicht – das hing von der Veranlagung ab – aber ein vollkommen schmerzfreies Leben gab es für den Verantwortlichen, die Verantwortliche nie wieder. Das ganze Volk war sich dessen bewusst. Und die zärtliche Fürsorge, die den Verantwortlichen zuteil wurde, hatte das ganze Volk tief geprägt. Allein der Gedanke an Gewalt rief eine Abscheu bei ihnen hervor, der schon körperlich spürbar war. Sie trugen das Leiden der Verantwortlichen mit so gut sie es vermochten und erleichterten einander das Leben, so gut es ging.

So waren sie ein Volk geworden von großer Güte, von tiefem Mitgefühl und ungewöhnlicher Aufmerksamkeit einander gegenüber.

Hir hatte das mit Erstaunen gehört. Was für eine Geschichte! Großartig und schrecklich zugleich! Sie würde ihr eigenes Volk nicht als mit Güte und Mitgefühl ausgezeichnet bezeichnen. Sie waren hochgradig medial veranlagte Künstler – dementsprechend schwierige Charaktere waren unter ihnen anzutreffen, und die Verantwortlichen mussten ebenso medial wie auch diplomatisch begabt sein.

Rur holte aus seinem Rucksack einen kleinen Gegenstand und reichte ihn Hir. „Vorsichtig!“ mahnte er, „Dies geht leicht kaputt.“

Auf ihrer Handfläche hatte Hir einen Gegenstand aus Gold liegen. Er schimmerte in der Sonne wie gebündelte Lichtstrahlen. Kreisrund und vielfach aufs Feinste durchbrochen erschien er wie ein feines Gewebe aus Goldfäden. Und sie sah zwei schnäbelnde Tauben darin. „Das ist ja wundervoll“, flüsterte sie. „Es gehörte Deiner Mutter, Esa.“ Rurs Stimme wurde leise. „Sie hat es für Dich gemacht. Das Goldhandwerk ist ein sehr Schwieriges, aber sie muss Freude daran gehabt haben. Ich fand es unter ihren Sachen. Sie hatte es extra für Dich bestimmt.“

Also auch dies konnte man aus Metall anfertigen….

 

 

Rur selber war niemals wieder wirklich glücklich geworden nach der Trennung von Esa. „Wie war meine Mutter?“ fragte Hir. „Du bist ihr sehr ähnlich“, lächelte Rur, „auch bei Dir weiß ich nie so ganz genau, woran ich eigentlich bin.“ Immer noch verbarg Hir sich, gab sich einfältiger als sie in Wirklichkeit war. Noch immer war sie vorsichtig.

 

Rur war fortgegangen, als er der Überzeugung gewesen war, dass Hir nun alleine mit Aren klar kommen würde und er, Rur nicht mehr unbedingt notwendig war für ihre Entwicklung. Da er den Weg zu den Rockies damals noch nicht gekannt hatte, war er viele Irrwege gegangen, war unnötige Gefahren eingegangen und hatte wesentlich länger für den Weg gebraucht, als eigentlich notwendig gewesen wäre. Als er bei ihnen ankam, war er verwundet und halbtot. Sie hatten ihn gesund gepflegt, und er hatte viele Monate bei ihnen gelebt, bevor er ihnen sagte, wer er war, und woher er gekommen war. Die Annäherung war schwierig gewesen. Vorurteile auf beiden Seiten hatten die Gespräche erschwert. Es war seine Liebe zu der schon toten Esa, die die Brücke wurde, auf der beide Seiten zu einander fanden. Diese Liebe war ehrlich, das fühlten sie alle. Und sie achteten sie. Und um dieser Liebe willen begannen sie, Rur nach und nach zu vertrauen. Er lernte die neue Verantwortlich erkennen, As. Es dauerte, bis er begriff, dass Esa noch einmal ein Kind geboren hatte: As. As trug diesen Knopf im Rückgrad, und er bemerkte, dass ihr Gang manchmal ein wenig schleppend war. Er sah die Aufmerksamkeit die ihr entgegengebracht wurde, die Fürsorge: niemals musste sie irgendetwas tragen oder holen, alles wurde ihr gebracht, jeder Wunsch, wenn möglich, von den Augen abgelesen. Dennoch hatte er sie niemals um etwas bitten hören. Sie hatte niemals etwas verlangt. Die Fürsorge, die ihr entgegengebracht wurde, brachte sie ihrerseits dem Volk entgegen: sie befreite es von den inneren Lasten, so gut sie konnte, sie tröstete, heilte, war ständig unterwegs um irgendjemandem Hilfe und Rat zuteil werden zu lassen.

 

Als Rur um den Knopf bat, waren alle entsetzt. Niemand ging davon aus, dass er Führerschaft beanspruchte – dazu kannten sie ihn alle schon zu lange und zu gut. Aber er wollte sich freiwillig Schmerzen zufügen! Und das stieß auf heftige Abwehr. Obwohl immer nur eine einzige Person den Knopf trug, waren alle doch so miteinander verbunden, dass sie zumindest den Preis ahnten, der dahinter steckte.

Rur setzte sich durch. Er wollte dieses Volk verstehen. Er wollte begreifen, bis in die Tiefen, was es durchgemacht hatte, wollte die Güte, das Mitgefühl nachvollziehen – er selber war eher ein Haudegen zu dieser Zeit. Er sah zwei getrennte Schwestervölker: beide reich begabt, beide mit hohen ethischen und moralischen Werten versehen, und er wollte sie vereinen – zuallererst einmal in sich selber.

 

So wurde er einer der ihren. So vertrauten sie ihm schließlich auch genug, um ihn wieder gehen zu lassen zu seinem eigenen Volk. Er war so sehr einer der ihren, dass sie nicht befürchteten, er würde ihnen Feinde ins Gebiet bringen. Das hatte er gewonnen durch diesen Knopf. Über den Preis redete er nicht.

 

Hir und Aren waren sehr schweigsam geworden. Als sie ungefähr noch eine Tagesreise vom Gebiet der Fortgegangenen entfernt waren, machten sie die letzte Rast. Und Hir bat die beiden Männer, sie alleine weitergehen zu lassen, das letzte Stück. Sie war die Verantwortliche für ihr Volk. Und sie würde As begegnen, der Führerin der Rockies, ihrer Schwester. Sie wollte, sie musste ihr Vertrauen gewinnen.

 

Und sie ließen sie gehen.

 

Kurz bevor die Sonne aufging, machte sich Hir auf den Weg. Sie nahm nichts mit. Was sie mitgenommen hatten von zu Hause, war inzwischen so mager geworden, dass Aren es bequem mit seinen Sachen mittragen konnte.

 

Sie hatte ihre Haare gewaschen am Fluss, sich die guten Kleider angezogen, die Handflächen angemalt mit den Zeichen des Friedens, und dann war sie losgegangen. Sie sang. Sie hatte eine ausgezeichnete Stimme, sogar bei ihrem Volk, das für seine guten Sänger bekannt war, war sie eine Ausnahme. Sie sang die alten Gesänge den ganzen Weg über.

 

Gegen Mittag stutzte sie. Sie hörte etwas. Jemand sang. Jemand anderer als sie. Es war ein Lied, das ähnlich dem ihren klang, aber etwas abgewandelt war.

Sie hörte eine kleine Weile lang zu, dann machte die fremde Stimme eine Pause. Jetzt sang Hir wieder, einige wenige Strophen, bis ihr die Stimme wieder antwortete, eine Frauenstimme war es. Voller Süße.

 

Hirs Herz zog sich immer mehr zusammen vor Freude. Sie hatte keine Ahnung, wer da so wunderschön – noch schöner als sie, wenn sie ehrlich war – sang, aber jede Furcht verlor sich in dem Hin und Her des Wechselgesangs.

 

Irgendwann sah sie von weitem eine Gestalt auf sich zukommen, eine Frau, jünger als sie und sehr schön, wie ihr schien.

 

Als sie sich beide gegenüber standen schwiegen sie. Es war As, das sah Hir sofort an der Ähnlichkeit. Dies hätte sie selber sein können in jüngeren Jahren.

Lange sahen sie sich an, betrachteten jeden Zug des Gesichts, jede Falte im Kleid. Langsam nahm Hir ihr Medaillon vom Hals. Aren hatte es ihr gegeben als Zeichen des Erbes. Er hatte seinen Tod vorausgesehen und ihr das Erbe schon frühzeitig übergeben.

 

Hir nahm das fein gearbeitete knöcherne Zeichen, kniete nieder und reichte es der Schwester – es war dies eine Bitte um Vergebung: für das Unrecht, das ein Volk dem anderen angetan hatte; dafür, dass Bedürfnisse nicht gehört worden waren; für die Gewalt sie einander bereitet hatten und den Schmerz, die Angst, die Unsicherheit, die dem Schwestervolk aufgeladen worden war.

 

As ihrerseits reichte der Schwester mit derselben Geste ihren Ring, einen wunderbaren Opal. Auch dies eine Bitte um Vergebung für Vorurteile, für Gewalt, üble Nachrede, Schmerz, der bereitet worden war.

 

Es war dies gegenseitige Neigen voreinander, das den Grundstock dafür bildete, das beide Völker, nun um viele Erfahrungen und Neues bereichert, wieder zusammenfanden.

 

Das war nun schon viele Jahre her. Jetzt schaute sie dem Ende ihres Lebens entgegen. Eri führte das Volk gut. Was sie nicht wusste, wurde durch As ergänzt und umgekehrt. Rur und Aren waren schon lange tot. Vieles, sehr vieles war gut geworden. Es gab Lieder, die nicht mehr gesungen wurden, und Lieder, die neu erfunden worden waren.

Der Schmerz in ihrem, Hirs Inneren,  hatte nur schwer nachgelassen. Die Missverständnisse, Versäumnisse, die nie gekannte Mutter, all das, was nie gesagt worden war – und das daraus resultierende Unrecht -  hatte noch lange in ihr genagt, bis jetzt, bis zu diesem Ritual, das die Erde zum Beben gebracht hatte.

 

Jetzt ruhte sie an dem Stein. Irgendwann würde sie unter ihm ruhen, hatte sie soeben beschlossen. Am Horizont ging die Sonne auf. Und Hir wusste, es würde alles gut werden. Mit einem Mal wurde ihr klar, dass nicht nur alles gut werden würde, sondern dass seltsamerweise, trotz allem, niemals ein Fehler gemacht worden war. Ja, es war vieles falsch gelaufen. Es waren Dinge geschehen, die nicht hätten passieren dürfen. Dennoch: wenn sie das Ergebnis ansah, hatte es keinen Fehler gegeben. Die Schwestervölker, beide, hatten hinzugewonnen. Eines lehrte nun das andere. Beide hatten ihre Begabungen ausgeweitet und miteinander waren sie unschlagbar. Ihre Begabungen, die Opferbereitschaft, die Gewaltlosigkeit – all das war ja erst entstanden durch all das Schreckliche, das erlebt worden war. Sie hatte die Nachfolgerin von As kennen gelernt. Aren war schon überragend begabt gewesen, in ihren Augen. Aber Ire würde ihn sogar noch übertreffen, wenn Hir richtig vermutete. Ire war schon aufgezogen worden in der Gemeinschaft beider Völker.

 

Ja, Hir war zufrieden, sehr zufrieden. Sie hatte die Hölle in sich versiegelt und den Himmel dennoch frei gehalten für alle. Es waren gute Völker, beide. Sie waren nicht fehlerfrei, das nicht, aber hochherzig und bescheiden. Sie hatten aus den Fehlern gelernt. Sie hatten aus Unrat Gold gemacht.

 

Lächelnd schlief Hir ein. Als As und die anderen sie fanden, war sie von einem Frieden umgeben, der alle zum Schweigen brachte. Sie begruben sie unter dem Wächterstein, den sie von nun an „Stein der Ruhe“ nannten.