Der Wandler
Der Wandler war wieder da. Sie seufzten. Sie freuten sich nicht. Aber sie hielten still, schwiegen, sagten nichts.
Wann es begonnen hatte, vermochten sie nicht genau zu sagen. Aber es musste mehrere Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende her sein. Ihre Zeitrechnung hatte sich zwischenzeitlich mehrfach geändert. Auch das hatten sie dem Wandler zu verdanken.
Wenn die alten Überlieferungen stimmten – und sie zweifelten nicht daran – schienen es anfänglich ganz normale Todesfälle gewesen zu sein, durch Unfälle oder Krankheiten hervorgerufen. Das war seltsam, denn sie waren eines der Völker, denen ewiges Leben, Unsterblichkeit zugesichert worden war. Es war dies keine Bevorzugung, keine Belohnung gewesen, sondern eher eine Art Bestrafung für Überheblichkeit und Arroganz. Sie waren ein seltsam begabtes Volk, mit hohem Weitblick und einem überragendem Gespür für zukünftige Ereignisse, die sie dadurch zu verändern vermochten, in der Regel jedenfalls.
Es war also durchaus verständlich, dass sie dieser neuen Situation hilflos gegenüber gestanden hatten: Tod. Das hatten sie nicht gekannt, ebenso wenig wie „Alter“ oder „Vergänglichkeit“. Mit wachsendem Unbehagen hatten sie ihrem eigenen Verfall, körperlichen Schmerzen, Einschränkungen zugesehen und konnten einander nicht helfen. Ihre Wut war unbeschreiblich gewesen. Sie konnten nichts machen! Sie waren hilflos! Wie viele Jahrzehnte es gedauert haben mochte, bis sie sich abfanden, sich fügten in das neue Schicksal, konnten sie nicht sagen.
Nach einigen Zeiträumen begannen sie zu ahnen, dass Zyklen am Werk waren. Sie beobachteten Zeitspannen von 7 Jahren. Alle 7 Jahre traten diese seltsamen Unfälle, Krankheiten, Todesfälle ein, und bei einigen wenigen von ihnen auch dieses unangenehme Phänomen, das sie als Altern zu begreifen gelernt hatten. Nicht immer wurde der Zyklus streng eingehalten, es konnten auch einmal 3 oder 5 Jahre sein, berichteten die Chroniken – dann waren allerdings immer auch einschneidende Begleitphänomene zu beobachten gewesen.
Aber in der Regel waren es 7 Jahre. Es waren nicht 7 Jahre eines persönlichen Lebens damit gemeint, sondern 7 Jahre des ganzen Volkes. So hatten sie gelernt, in Zyklen zu rechnen. Wurde jemand geboren, so rechnete man seine Lebensjahre nicht durch seine persönlich erlebten Sommer und Winter aus, sondern durch die Zyklen, die er gemeinsam mit dem Volk durch- und erlebte.
Im Laufe der Zyklen beobachteten die Chronisten noch etwas anderes. Tod gab es selten bei ihnen, aber wenn, dann hatten sie ihn als etwas Endgültiges betrachten gelernt. Wer nicht mehr mit dem Volk lebte, wurde vergessen. Das änderte sich mit der Geschichte von Rosablume. Es war dies ein kleines Mädchen, das starb, noch lange, bevor es seinen ersten Zyklus beendet hatte, noch nicht einmal die Hälfte, ja, nicht ein Viertel hatte es hinter sich gebracht, da wurde es krank und starb. Von seinen Eltern zärtlich geliebt, wurde es nie bei seinem Namen, sondern immer nur „Blümchen“ oder „Rosa Blümchen“ oder „Rosablume“ genannt. So waren sie alle. Neben ihrem hochfahrenden Temperament hatten sie ein überaus zärtliches Gemüt.
Wenige Wochen, nachdem dieses kleine Mädchen gestorben war – die Eltern waren untröstlich gewesen – war in der Nähe der Hütte eine Pflanze gewachsen, die niemand des Volkes jemals zuvor gesehen hatte. Und da sie alles, wirklich alles in ihren Chroniken festhielten, waren sie sich da sicher. Diese kleine Pflanze wuchs heran. Sie wurde nicht groß, blieb klein, bekam eine Knospe, die sich entwickelte zu einer wunderschönen kleinen rosafarbenen Blüte. Und der Duft, den diese Blüte ausströmte ähnelte dem Duft von Rosablume.
Hier waren sie jetzt alle sehr aufmerksam geworden. Wenn jetzt jemand „starb“ begannen sie, Neugeburten genauer zu beobachten – egal, ob diese Geburten menschlicher, tierischer oder pflanzlicher Gestalt waren – später nahmen sie noch Gedanken oder Gefühle, sogar Träume hinzu.
Und es entwickelte sich ein Muster. Manchmal mussten sie viel Geduld haben, aber es lohnte sich immer.
Wenn jemand starb, so beobachteten sie früher oder später, dass etwas Neues in ihrem Umfeld auftrat, etwas noch nie Dagewesenes.
Es konnte eine Seele wieder kommen als Mensch, als Pflanze, als Tierart, als Gedanke, aber auch als Inspiration für eine Geschichte oder eine Erfindung. Oder als etwas Bemerkenswertes innerhalb eines Traumes.
So lernten sie, dass es, außer ihrer, der sichtbaren Welt, noch mindestens eine unsichtbare gab – und eine zwischen beiden - über die kommuniziert werden konnte, über die Wege hin und her möglich waren.
Es war der Wandler, der in allen Drei Welten zu Hause war. Jedenfalls hatten sie irgendwann begonnen, ihn den Wandler zu nennen – wer er war, wussten sie nicht, auch nicht, wie er aussah (ob er überhaupt eine Gestalt besaß), und ob es ein oder mehrere von diesen Wesen gab.
Den sie den Wandler nannten, war schon in allen möglichen Gestalten zu ihnen gekommen – es schien teilweise auf das Geschlecht, das Alter und das Temperament desjenigen anzukommen, den er aufzusuchen geruhte. Er konnte als furchtloser Krieger ebenso auftreten wie als hinreißend verführerisch schöne Frau, als unschuldiges Kind oder als Gerippe. Aber man war bei einigen anderen Begegnungen nicht sicher gewesen, ob dies nun der Wandler gewesen war oder nicht.
Wenn man ganz sicher gehen wollte, suchte man irgendwo nach einem Amulett oder einer Kugel: Schwarz, mit Goldsternen darin – tief, wie ein Universum schimmernd. Wenn das Geschöpf dies bei sich trug, dann war es der Wandler. Wenn nicht, nun, dann war man nicht sicher. Noch nicht.
Und nun war er wieder da, der Wandler. Sie fühlten ihn. Sie spürten seine Ankunft noch bevor das Ereignis eintrat. Etwas würde passieren.
Und sie warteten ab, schwiegen, hielten stille. Was auch sollten sie sonst tun?
Eine der ältesten unter ihnen war Simha. Sie hatte schon Rosablume gekannt, so alt war sie. Niemand zählte mehr die Zyklen ihrer Lebenszeit. Es mochte noch zwei oder drei andere geben, die genau so alt waren wie Simha, das wusste niemand so genau.
Simha war eine stille, harsch anmutende Frau. Ihre Gedanken verriet sie ungefragt niemandem. Wenn jemand sie um Rat ersuchte, bekam er ihn: sofort, umfassend, weitsichtig – und mit dem Gefühl, nur die Spitze eines ganzes Eisberges von Überlegungen mitgeteilt zu bekommen. An den Kosenamen von Simha erinnerte sich niemand mehr. Bei ihr kam man auch nicht auf die Idee, nach einem zu suchen. Aber natürlich hatte auch sie einmal einen gehabt. Und ab und zu dachte sie auch noch daran.
Sie lachte nie und lächelte nur selten. Aber wen sie einmal angelächelt hatte, der fühlte sich gewärmt für sein Leben. Dieses so seltene Lächeln war der Grund für die tiefe Liebe, die Simha entgegengebracht wurde.
Es war Simha, der der Wandler diesmal zuerst begegnete. Sie hatte es erhofft. Es gab viele Fragen und zuwenig Antworten. Es gab zu viele verschlossene Türen und keine Pfade. So etwas mochte sie nicht.
Sie war gerade mit Spinnen beschäftigt, als sie seine Gegenwart spürte. Sie fuhr mit ihren Bewegungen fort, ganz so, als hätte sie nichts bemerkt, wandte aber nach einer kleinen Weile ihren Kopf und sah ihn an. Er war als Kind zu ihr gekommen. Und eindeutig versuchte dieses Kind noch schnell eine kleine schwarze Kugel in seiner Hand zu verbergen. Simha tat so, als habe sie es nicht bemerkt. Sie betrachtete das Kind. Das geschah weder aus unzulässiger Neugierde noch aus Respektlosigkeit – weder das eine noch das andere wäre ihre Art gewesen. Es war die tiefe Ernsthaftigkeit ihrer eigenen Gedanken, Fragen und Gefühle, die Antwort suchten in dem kleinen, schmalen Kindergesicht. Es schien die Unschuld in Person zu sein – und das glaubte Simha nun gerade gar nicht – die Augen blickten blau und verträumt, die Haut schimmerte von einem zarten Perlmutt. Und wenn im Gegenlicht die Sonne hindurch schien, glaubte Simha, das Skelett - jeder Knochen federzart - durch die Haut und das Fleisch des Kindes hindurch sehen zu können: als sei das ganze Geschöpf, Schicht für Schicht, aufgebaut aus etwas, das zarter war als es die Federn von Vögeln sind. Dies war der Wandler? „Ja“, das Kind nickte als Antwort auf ihre unausgesprochene Frage. Es las also Gedanken. Das war eine wichtige Information. Simha verzog keine Miene, als sie dies registrierte. „Bist Du der einzige?“ fragte sie – es fiel ihr dies einfach so spontan ein. „Nein“, das Kind schüttelte heftig den Kopf. „Aber ich bin für Euch da.“ Beide schwiegen eine Weile. Dann fuhr das Kind fort, als habe Simha gefragt: „Da gibt es noch Krankheit und Armut und Angst und Geburt und Lust und Sommer und Freude und Unfall und …..“ es fuhr mit der Aufzählung fort, emotionslos, als würde es eine Inventurliste vorlesen. Für Simha bestätigte sich hier, was sie schon vermutet hatten: es wurde gewandelt; es wurde nicht, wie sie in den ersten Zyklen gedacht hatten, genommen, es wurde auch gegeben. Eines wurde zu etwas anderem. Aber – möglicherweise war alles noch ganz anders. „Du bist nicht der Tod, bringst ihn nicht einmal“, sagte sie, erstaunt über den Gedanken, der eben erst in ihr Form annahm. „Ich bin das Leben“, war die Erwiderung, und ein kaum merklicher, sehr zufriedener Zug legte sich um die Lippen des Kindes – um Lippen, die zart waren wie Schmetterlingsflügel.
„Zeige es mir“, bat Simha und kam sich seltsam dabei vor. Sie konnte sich nicht mehr erinnern, wann das letzte Mal ihr jemand überlegen gewesen war. Einige standen neben ihr, das ja. Aber überlegen? Hier war ein Meister auf einem Gebiet, auf dem sie sich noch nicht auskannte. Ob sie ihm vertrauen konnte, wusste sie nicht. Ob er ihr helfen würde zu begreifen, wusste sie auch nicht. Aber wenn sie ihrem Volk helfen wollte, könnte dies ein Weg sein. „Goldköpfchen“, sagte das Kind leise. Simhas Kopf fuhr hoch, und in dem bisher unbewegten Gesicht wurden ihre Augen groß. Die unglaubwürdige Unschuld des Kindes war einer großen Weichheit gewichen. Jetzt war es alt. Ein kleines Kind mit einem alten, weichen Gesicht. „Sie haben Dich so genannt, als Du klein warst. Und der Name passte besser, als sie wussten. Bevor Deine Seele in diesem Körper geboren wurde, war sie in dem einer Vogelart, die Ihr ebenfalls ‚Goldköpfchen’ nennt“, und ein sanftes Leuchten suchte Simhas Erschrecken zu besänftigen.
Außer ihr wusste, konnte niemand mehr ihren Kosenamen wissen. Und, tatsächlich hatte sie ihn bekommen, weil sie so gerne gesungen hatte; „Du hast gezwitschert wie ein Goldköpfchen!“ hatte ihre Mutter ihr erklärt.
„Ich bin Lulu“, stellte das Kind sich vor in dem Versuch, die Beziehung nun persönlich zu gestalten. Es hatte eines von Simhas Geheimnissen aufgedeckt – da war es nur recht und billig, dass es wenigstens auch eine persönliche Beziehung seinerseits möglich machte. „Ich begleite Dich und die Deinen schon lange. Und, ja, ich werde Dir zeigen, was zu sehen Du in der Lage sein wirst. Und ich bin sicher, das wird viel sein“, es lächelte und tiefe Wärme kam darin zum Ausdruck, „Du hältst Vielem stand.“ Es klang wie ein Kompliment – wofür genau wusste Simha allerdings nicht.
„Was war mit Rosablume?“ wollte sie wissen.
„Rosablume war tatsächlich schon vor ihrer Inkarnation in den Menschenkörper eine Blume, dieselbe, wie nachher auch, nur in einer anderen Gegend. Es war zu früh. Sie hatte zu viele Stufen übersprungen. Wir mussten sie zurückholen. Sie wäre sonst zerbrochen.“
Es gab also Stufen – Entwicklungen. Von Blume zu Mensch ging nicht. Von Vogel zu Mensch offenbar wohl. „Nicht unbedingt. Es gibt Ausnahmen“, wieder lächelte Lulu dieses strahlende Lächeln, das alles zu umarmen schien. „Siehst Du, als Du ein Vogel warst, warst Du viel zu faul, Dir selber das Futter zu holen. Du hattest einfach keine Lust. Die Art der Goldköpfchen ist einfach so, sich verwöhnen zu lassen. Sie sind gerne in Gesellschaft von Menschen und Siedlungen. Du hattest eine besondere kleine Menschenfreundin, die Dir immer das Futter gebracht hat. Durch diese Beziehung hast Du das Wesen von Menschen auf eine Weise kennen gelernt, wie es Goldköpfchen normalerweise nicht so schnell können. Und Du hast Dich bei dem Menschenmädchen revanchiert: hast sie getröstet, als sie traurig war – und es gab eine sehr traurige Zeit in ihrem Leben……auch das hat dazu beigetragen, dass Deine Seele Erfahrungen machte, wie sie Vögel normalerweise selten machen. So konntest Du in ein Menschenleben geboren werden, ohne Schaden zu nehmen.
Rosablume dagegen war einfach schlicht neugierig und ungeduldig und hat nicht auf uns gehört. Wir liebten sie alle sehr, tun es noch heute. Du hast sie als Mensch gekannt, Du kennst die Blumenart, weißt, wie unwiderstehlich sie sind. Wir konnten ihren Bitten einfach nicht widerstehen und haben ihr diesen „Ausflug“ gegönnt. Aber schließlich haben wir sie wieder zurückgeholt. Seelen sind kostbar, unendlich kostbar. Und keine sollte beschädigt werden.“
‚Seelen sind kostbar’ – es war dieser Satz, der Simha Vertrauen gab in das Kind, das Lulu genannt werden wollte. War das sein Name? „Hast Du eigentlich überhaupt einen Namen?“
„Alle“, war die Antwort.
„Wer bist Du? Bringst den Tod nicht und doch über ihn das Leben.
Scheinst trügerisch in so vielen Dingen und weißt doch um Liebe….“
„Weiß ich um Liebe?“ es schien ernsthaft darüber nachzudenken, und während es das tat, wurde es größer. Die Feinheit, Leichtigkeit. Durchlässigkeit verschwand, und es wurde fest, dicht, voller Substanz. Es kehrte sein Innerstes nach außen und wurde zu einem Knochengestell. „Weiß ich um Liebe?“ wiederholte das Skelett und die Stimme war nun tief, vibrierte in Simhas eigenen Knochen nach. „Ich weiß um Liebe“, stellte das Skelett dann fest, „aber anders, als Du ahnst. Ich sehe Zusammenhänge, Kreisläufe, ich kenne die Zyklen noch ganz anders als Ihr. Ich kenne das Ende. Ihr seid erst am Anfang. Ohne einen geglückten Beginn ist das Ende schon zum Scheitern verurteilt.“ – „Wozu ist das wichtig?“ Simhas Augen waren scharf geworden. Sie näherten sich dem Wesentlichen. Sie wollte sich nichts entgehen lassen. Sie wollte, dass sie die Antworten bekam, die sie brauchte. Dazu musste sie aber auch die genau richtigen Fragen stellen. Denn nur auf diese würde der Wandler antworten.
„Weil Ihr sonst alle verloren seid“, die leeren Augenhöhlen sahen ihr eindringlich ins Gesicht, „weil sonst alles, was Du jetzt siehst, jemals gesehen hast oder Dir vorstellen kannst, verloren ist.“
Gold. Die Knochen des Skelettes schienen Adern zu haben, der Schädel auf jeden Fall. Und in diesen Adern schimmerte, glitzerte pures Gold und gleißte in den leeren Augenhöhlen.
„Du bewahrst“, langsam formte Simhas Mund diese Worte, „Du bist wie ein Schäfer: Du hütest. Du hütest – was? Seelen? Gedanken? Wünsche? Gutes? Ungutes? Unterschiedslos?“
„Schäfer!“ Blitzschnell war aus dem Gerippe ein alter Mann mit wettergegerbtem Gesicht, Schlapphut, Umhang und langem Stab geworden. Aus blitzend grünen Augen sah er sie an. „Du hast Recht. Früher haben sie mich einmal so genannt – aber es ist schon sehr lange her!“ Er lachte. Diese Erinnerung schien ihm Freude zu bereiten. Und Simha, die niemals lachte, konnte sich eines Lächelns nicht erwehren. Es war so ansteckend! Er sah sie an und seine Augen wurden weich.
„Ja, Du hast Recht. Ich hüte. Ich bin wie ein Schäfer, der für seine Schafe sorgt. Aber meine Schafe sind weniger Menschen oder Gedanken oder Wünsche. Für mich ist ein zu hütendes Schaf z. B. ein Seelenfunke vom ersten Aufblitzen an über seine Entfaltung hinaus bis zu seinem vollen, vollsten Aufgehen.“ – „Wie eine Blume“, sinnierte Simha. „Wie eine Blume“, bestätigte der Wandler, der sofort eifrig dabei war, mitten im Zimmer, den Boden umzugraben, zu säen, zu pflanzen, und mit einer grünen Gießkanne eifrig hin und her rannte. Jetzt hatte er eine große grüne Plastikschürze umgebunden und Gummihandschuhe an den Händen. „Wegen der Erde“, fügte er ihrem erstaunten Blick erklärend hinzu, „die Fingernägel sind hinterher immer so schwer sauberzumachen.“ „Zitrone“, in ihrer typisch kurz angebunden Art gab sie kompetenten Rat, während ihre Gedanken schon wieder woanders waren.
„Oh, danke – das wusste ich nicht.“ Seine Worte holten sie zu sich zurück.
„Du hütest kleine Seelen-Samen“ und sorgst für sie während sie wachsen, schützt sie vor „Unwetter“ und „Ungeziefer“ – ihre „Erkrankungen“ behandelst Du, und sorgst auf diese Weise dafür, dass sie gut aufgehen können, blühen und Früchte tragen?“
„Nicht so ganz“, jetzt saß er am Tisch, ihr gegenüber, wieder als Gerippe. Zwischen ihnen schimmerte schon seit einiger Zeit seine Kugel. „Ich schütze sie nicht vor jedem „Unwetter“ und „Ungeziefer“. Auch „Ungeziefer“ z. B. muss ja wachsen dürfen, ist ja auch dazu da, dass es sein Endziel erreicht.“
Er schwieg. Wenn er sie richtig einschätzte, musste er nicht mehr sagen.
„Gleichgewicht!“ Sie hauchte es mehr, als das sie es laut sagte – es war mehr für sich selber als für ihn gedacht. „Du hütest das Gleichgewicht!“ Er klatschte in die Hände. Er hatte sie richtig eingeschätzt. Sie begann, sich zu erinnern.
Sie fühlte sich merkwürdig. Etwas in ihr zog sich in sich selber zurück, an einen Ort, von dem sie nicht gewusst hatte, dass es ihn in ihr gab. Tief verborgen war er in ihr und schwer zu finden, sogar für sie selber. Was für ein Ort war das nur? Und, welche Pfade ging sie, nun, da sie dahin wanderte? „Du bist nicht allein“, tief vibrierte seine Stimme in ihren Knochen. Es war schön. Sie mochte es gerne, seine Stimme in ihrem Inneren zu hören und zu fühlen. Fühlbares Wort. Klang, der strömt. Gedanke, der Kraft hat.
Dann aber schrak sie zurück. „Wohin gehen wir?“ Sie sah ihn nicht mehr, fühlte seine Antwort nur in ihren Knochen. „Heim. Dahin wolltest Du doch, oder?“ Sie gingen weiter. Langsam gingen sie weiter die dunklen Pfade, von denen sie bis dahin nicht gewusst hatte dass sie sie in sich trug. „Und wer hilft dann meinem Volk?“ fragte sie irgendwann in die Stille hinein. Es war eine großartige Stille geworden, in ihr und um sie herum. Hörbar. Diese Stille hatte eine Präsenz, wie sonst nichts Lebendes, was sie jemals kennen gelernt hatte.
Die Stille hielt an und wuchs. Er antwortete lange nicht. Und als er es tat, war es anders, als sie erwartet hatte.
„Du kannst nicht dort und hier sein zur selben Zeit. Das geht nicht, leider“, jetzt fühlte sie seine Stimme nicht einmal mehr in ihren Knochen. Es schien die Stille selber zu sein, die zu ihr sprach, die sich ausbreitete in ihr, ihrem Leib, ihrem Geist, ihrem Sinn und ihr Botschaft sandte von irgendwo.
„Du kannst nicht heimgehen und gleichzeitig die Chronik Deines Volkes vollenden. Denn es wäre eine Vollendung.“ Ja, das wäre es. Es gäbe danach nichts wirklich Wesentliches mehr zu schreiben, herauszufinden, zu erforschen. Wenn sie, was sie hier und jetzt erfahren hatte, niedergeschrieben hätte, wäre alles danach Geschriebene bloßer Nachhall. Das Leben ihres Volkes würde sich vollkommen ändern, von Grund auf. „Ach, das glaube ich nicht“ formte sich aus der Stille. Und wieder stimmte sie zu. Nur für die, die verstanden, würde sich alles verändern. „Und wie viele, glaubst Du, wären das?“ Ja – wie viele? Für wie viele würde es sich lohnen zurückzukehren? Sie schwieg.
Sie war in den Frieden eingekehrt über den es nicht viel zu sagen gibt. Von denen, die dorthin gelangen – und jeder gelangt irgendwann einmal dorthin – sind nur die wenigsten wieder zurückgekommen zu uns; zu denen, die nicht wissen; zu denen, deren Geist noch nicht erfasst wurde von dem Leuchten, dass dem Schweigen eigen ist. Die zurückgekommen sind, haben immer Heimweh behalten. Inmitten ihrer sie liebenden Familien sind sie Heimatlose gewesen seitdem.
Frieden. Schweigen. Leuchten. Stille ohne Grenze.
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Schon seit einigen Tagen schrieb Simha an der Chronik. Es musste wichtig sein. Nur selten schrieb jemand der Alten daran – und noch nie hatte jemand so lange daran geschrieben. Simha war lange krank gewesen, sie hatten um ihr Leben gefürchtet. Auf irgendeine Art und Weise hatte sie den Wandler bezwungen. Wie immer schwieg sie. Und niemand war so unhöflich, sie zu fragen, was sie in der Zeit, in der sie nicht „bei sich“ war, erlebt haben mochte.
Aber es musste Tiefgreifendes gewesen sein. Simha war immer noch so verschwiegen wie gewohnt, aber weicher war sie geworden, viel, viel weicher. Und eine Freundlichkeit ging von ihr aus, dass man Heimweh bekam nach dem, wo sie gewesen war.