Der Kleine Heilige

 

Sie betete. In der Kleinen Kapelle des Heiligen (im Volksmund auch kurz „Der Kleine Heilige“ genannt), stand die Gottesmutter in ihrem blauen Mantel. Sie kannte sie schon seit ihrer Kindheit. Meine Güte, wie müde sie war! Der Hof machte viel Arbeit, es schien ihr von Jahr zu Jahr mehr zu werden. Die Kinder waren fort. Sie studierten oder hatten in der Stadt ihre Berufe, den Hof wollte keiner von ihnen. Ihr Mann war noch wortkarger geworden in den letzten Jahren – sie hatten einander nicht mehr viel zu sagen. Die Arbeit auf dem Hof band sie aneinander. Sonst war von der schönen Liebe ihres Lebens nicht mehr viel übrig geblieben. Er ging oft abends fort und sie wusste nicht, wohin. Es war ihr auch egal. So viel war ihr gleichgültig geworden in den letzten Jahren.

 

Als sie vor einigen Tagen zufällig in den Spiegel geschaut hatte, war sie erschrocken. Sie sah nicht mehr oft in den Spiegel – es war für niemanden mehr wichtig, wie sie aussah. Und dass sie älter wurde, wusste sie auch ohne Spiegel. Ihre Knochen sagten es ihr jeden Tag. Trotzdem – von den wachen, blanken Augen ihrer Jugend war nichts mehr übrig geblieben. Ihre Haare waren trocken, wie auch ihre Haut. Glanzlos – das Wort passte auf sie. Sie, die solche Lust immer gehabt hatte auf Geglitzer, Glanz, die so gerne Gesellschaften besucht, Vorträge gehalten und Schulungen ausgearbeitet hatte – sie war glanzlos geworden. Und müde, so furchtbar müde.

 

Was sollte sie der Gottesmutter sagen? Und was dem Kleinen Heiligen, der hier angeblich seine Wunder tat? Niemand hatte ihn jemals gesehen – dennoch waren alle fest von seiner Existenz überzeugt.  Und, wirklich - es war schon merkwürdig. Die an und für sich stets verschlossene Kapelle war manchmal unversehens geöffnet. Und es standen immer Blumen auf dem Altar, manchmal sogar welche, die in weit entfernten Gebieten wuchsen. Niemand wusste, wie sie hierher kamen. Jedoch - wer der Kleine Heilige war, vermochte keiner zu sagen.

Und die Gottesmutter? Nun – sie war selber eine Frau. Ihr brauchte sie sowieso nichts zu sagen. Frauenschicksale waren überall gleich, immer. Manchmal sah es nicht so aus, aber wenn man dahinter sah …………

 

 

 

Der Kleine Heilige lächelte. Er hatte sich vorgesehen, dass ihn niemand mehr sah. Wie er das machte, war sein Geheimnis. Er selber sah viel. Schon sehr, sehr lange.

An die Zeit seines Priestertums konnte er selber sich kaum noch erinnern – es schien dies, was ihm damals Lebenssinn und -inhalt war, jetzt nur noch ein kleiner Schritt, eine winzige Stufe in der Entwicklung seiner eigenen Seele. Es war die Gottesmutter, die ihn gesegnet hatte, wie selten jemand gesegnet worden war. Seine Hände – als die Wunden darin aufzubrechen begonnen hatten (schon lange hatten sie geschmerzt, dass er manchmal nur noch geweint hatte) - hatte er sie gebeten, ihn zu verbergen vor den Augen der Sterblichen. Er war selber sterblich – und doch war er nicht wie sie. Sie waren seine Kinder, er mochte sie nicht verlassen. Dennoch - Aufmerksamkeit hasste er. Und die Gottesmutter hatte Mitleid mit ihm und verbarg ihn. Meistens. So blieb er hier, blieb bei seinen Kindern, sorgte für sie, ohne dass sie es merkten. Nur sehr wenige fanden den Weg in diese kleine, schmucklose und offenbar dem Verfall gewidmete Kapelle – aber die kamen, behütete er, hielt ihnen die Treue.

 

Louise kannte er schon lange. Schon als junge Frau war sie ihm aufgefallen. Sie hatte sich damals in Christian verliebt – sonst wäre sie für ihn selber eine arge Versuchung gewesen.

Sie war niemals im eigentlichen Sinne schön gewesen, aber auf eine eigentümlich kluge Weise wach. Er hätte ihr vieles zeigen können, damals, wäre es möglich gewesen. Nun, sie hatte ein anderes Leben gewählt als das geistliche. Und ihre Seele war trüb geworden. Wie sonst auch hätte sie dieses Leben aushalten können. Er seufzte leise. Manchmal verstand er die Göttliche Mutter wirklich nicht. Ihre Wege und Weisen waren seltsam. Aber er beugte sich. Sie wusste schon, was sie tat, nahm er an.

 

 

 

 

 

 

Seine Hände – er war nur noch Licht, war es immer mehr geworden seit damals – schimmerten in diesem Moment wie reines Silber. Sie schmerzten nicht mehr. Sein Herz allerdings,  das tat noch oft weh.

 

Wie anders hätte alles verlaufen können, wenn nicht die Gottesmutter Seine Mutter gewesen wäre. Und so war Sie auch die des Priesters geworden.

Sie, die aller Wesen Mutter war, wurde die seine, wie es die leibliche, die ihn geboren hatte und genährt mit Milch, nie gewesen war. Die Gottesmutter hatte sein Herz genährt mit Ihrem eigenen Blut, so war es ihm manchmal erschienen. Und Sie, die er nur als Statue gekannt hatte, hatte zu ihm geredet. Und er hatte Sie weinen gesehen.

Erst später hatte er begriffen, dass es nicht Ihr eigenes Leid war, um dessentwillen sie geweint hatte. Sie hatte geweint aus Liebe und Mitgefühl mit Ihren Kindern, die so hungerten und so abgrundtief traurig waren. Einige hatte das Leben weit fortgeschleudert in andere Länder, an andere Grenzen, viele waren nicht mehr nach Hause gekommen.

Und die Kinder – wie viele von ihnen waren vor Hunger und Krankheit gestorben, wie viele unglücklich geworden.

Um sie und mit ihnen weinte die Gottesmutter. Sie hatte die Tränen geweint, die so oft nicht geweint werden können. Sie hatte eine Verlorenheit beweint, die nicht die Ihre war. Sie hatte um Seelen, um ihre Kinder geweint, die so weit fort von ihrem eigenen Herzen waren.

Als er das begriffen hatte, war er verloren: an Sie verloren; an die Liebe verloren; an die mütterliche, bergende, suchende, verwöhnende Liebe verloren.

Ihr Kind wollte er sein, die so viele Kinder verlor.

 

 

 

 

 

 

 

Sein Herz gab er Ihr, der so viele Herzen nie geschenkt werden würden. Seine Hände gab er Ihr, die, durchbohrt, verletzt, wund, kaum handlungsfähig mehr waren. Aber andere hatte er nicht. Er hatte nur ein schwaches Menschenherz, das beinahe an eine Frau verschenkt worden wäre. Er hatte nur diese Hände, die fast schon keine Kerze mehr halten konnte. Er besaß nur dieses kleine menschliche Ich, das vor Liebe brannte, und sich selber dabei doch so schwer nur vergessen konnte.

Er war klein, unvollständig, schwach. Aber er hatte sonst nichts, was er Ihr geben konnte. Und Sie hatte es angenommen.

Sie hatte, damals in jener denkwürdigen Nacht, ihn angenommen als ihren Sohn.

 

Es hatte geschneit – so geschneit, dass er den Weg nach Hause nicht mehr gehen konnte. Die Kapelle war eingeschneit in wenigen Stunden, total. Und es schneite noch tagelang weiter. Das war gut so. Er hatte diese Tage gebraucht.

 

Denn er war eingeweiht worden in Ihr Leben. Vieles war ihm geschehen – und da erst hatte er begriffen, was er alles nicht wusste, nicht verstand, nicht sah.

Sie hatte ihm Geburt gezeigt aus Ihrer Sicht – und Sterben, auch aus Ihrer Sicht. Mit Ihren Augen hatte er Kinder gesehen, Mütter und Männer. Sie hatte ihm ihren Körper überlassen, durch den er fühlte, was Nähren bedeutete. Und mit ihren Augen, ihren Händen, ihren Füssen hatte er die Erde kennen gelernt, wie nur wenige vor ihm. Diese Erde war ihm Geliebte geworden.

Erst, als er gelernt hatte, diese Geliebte sorgsam zu hegen und zu hüten, war er zum Mann gereift, war er „Mensch“ geworden im eigentlichen Sinne. Menschsein: Embryo im göttlichen Schoss, genährt und geschützt, hingegeben und mit dem Göttlichen dessen Wesen teilend – das war Menschsein, das war das Vollständigkeit.

 

 

 

 

 

Sie hatte ihn geweiht, und danach ihn verborgen vor der Welt. So, wie auch sie verborgen war. Überall auf der Welt gibt es Bilder und Statuen von Ihr. Doch Sie selber ist dahinter und hinter vielem, vielem mehr, verborgen. Und die Menschen wissen das nicht.

 

 

Jetzt war Louise hier, die schöne, einst so geliebte Louise. Was war nur aus ihr geworden?

Er sah nicht die Müdigkeit in ihren Augen. Er sah nicht die glanzlosen Haare, die rissige Haut.

Was er sah, war matt gewordene Sehnsucht und Enttäuschung. Sie hatte nicht gefunden, wonach sie gesucht hatte.

 

 

War sie eingeschlafen? Sie wusste es nicht, fuhr hoch – was mochte der Kleine Heilige nur denken, wenn – und falls! – es ihn doch gab? Und die Gottesmutter?

Sie kniete nieder und bat um Vergebung für ihre Sünden. In diesem Moment meinte sie damit, dass zu müde gewesen war, um der Göttlichen Mutter die Aufmerksamkeit zu schenken, derer Sie würdig war.

Aber war Sie das wirklich? Louise war groß geworden mit tiefer Ehrfurcht und Liebe vor dem Göttlichen, besonders vor der Gottesmutter. Und sie hatte Sie geliebt, du lieber Gott – und wie sie Sie geliebt hatte! Was hatte sie davon gehabt? Was war davon geblieben? Wo waren ihre Träume geblieben? Was hatte ihr Leben für einen Sinn gehabt?

 

Eine leichte Regung neben ihr ließ sie aufsehen. Sie hatte nicht bemerkt, dass noch jemand in die Kapelle gekommen war. Ein Priester mit schönem Gesicht sah versunken zur Gottesmutter hin.

Seine Hände konnte sie nicht sehen, die Ärmel des priesterlichen Gewandes verdeckten sie.

 

 

 

 

 

 

Er wandte ihr sein Gesicht zu, und sie versank in seinen Augen. Blau waren sie, blau-violett, und ein Leuchten stand darin, als würde er von tausend Sonnen genährt.

Wer war er?

 

„Denke nicht, meine Tochter, schlafe. Ruh Dich aus.“ Er hatte zu ihr geredet, seine Stimme war so voller Mitgefühl gewesen, dass sie dachte, die Gottesmutter selber würde zu ihr reden. Aber das war natürlich Unsinn.

Dann hatte er kurz und leicht, wie ein Schmetterlingsflügel war es gewesen, ihre Stirne berührt. Ihre Augen sanken herab, der Körper erschlaffte und sank auf die Kirchenbank herunter. Sie merkte das nicht mehr.

 

 

 

Sie war wieder jung – Christian lief neben ihr her über die Wiese, es war Sommer und sie waren so verliebt, so sehr verliebt...

Da hatte er, der ihr Mann geworden war, sie gefragt:

„Was erwartest Du vom Leben, Liebste? Von mir? Von der Liebe?“

 

Sie hatte lange darüber nachgedacht, während der Sommer um sie beide herum duftete, und sie so im Gras lagen. Sie hatte ihm nie die Wahrheit gesagt, wäre sich gierig und grausam vorgekommen.

 

Die Antwort wäre gewesen: „Ich erwarte den Himmel. Schenk mir den Himmel, den Mond und die Sterne. Lass mich wohnen in den Unendlichkeiten des Alls. Lass mich die Gottesmutter sehen und ihr nur ein einziges Mal die Füße küssen. Dann will ich Deine Frau sein, unsere Kinder zur Welt bringen und den Hof versorgen. Dann will ich Dir die Frau sein, die Du erträumst.“

 

All das hatte sie nicht gesagt. Sie hatte gar nichts gesagt. Und er hatte niemals mehr gefragt. Damals hatten sie noch miteinander reden können. Bald darauf schon nicht mehr.

Sie war ihm die Frau geworden, die er wollte.

Aber sie hatte niemals die Füße der Gottesmutter geküsst.

 

 

 

 

Jetzt, im Traum – und sie wusste, sie träumte, aber es war ihr, wie so vieles, egal – sagte sie es. Sie schämte sich nicht mehr. Sie war zu alt geworden um sich noch zu schämen.

 

„Schenk mir den Himmel“, flüsterte sie, „webe mich ein in den Mantel der Gottesmutter, dass ich die Welt sehe, wie sie wirklich ist.“ Und der Traum-Christian lachte vor Glück.  „Dass Du das gesagt hast, Liebste“, er war restlos begeistert, „Dass du den Mut gefunden hast, es mir doch noch zu sagen! Oh – wie ich Dich dafür liebe!“ Er konnte sich kaum halten vor Glück, und sie wunderte sich.

 

„Ich werde Dir den Himmel schenken, den Mond, die Sonne und die Sterne. Und Du wirst die Füße der Heiligen Mutter küssen – das verspreche ich dir.“ Und er begann, sie zu liebkosen, wie sie noch niemals liebkost worden war in ihrem langen, kurzen Leben.

 

 

Er berührte ihre Augen, küsste diese,  und sie sah:

Liebe leuchten aus den Augen der Schmetterlinge, Nahrung tropfte aus jungem Gras, goldene Aureolen waren gewebt um Blüten und Bienen. Ein Leuchten war in allem gewesen, was sie sonst auch sah und kannte – nur anders.

 

Er streichelte ihre Brüste, und sie schrie beinahe auf:

Alles nährte und wurde genährt, aß oder war Nahrung und wusste darum. Kein Geschöpf auf der Welt, keine Fliege, kein Heuschreck, kein Mensch, kein Krumen Erde war davon ausgenommen.

 

Er küsste ihren Bauch, sein Streicheln schien eine Geste des Segens zu sein, und sie schwoll an ins Unermessliche:

Sterne kreisten in ihr, sie aß sie, und sie schied sie auch wieder aus. Geborgen war alles – Nicht-Geborgenes gab es nicht. Tod und Leid war geborgen, war endlich geborgen, ebenso wie Angst,  Leben, Freude.

Nichts Ungeborgenes gab es, noch würde es dies jemals geben.

 

 

 

 

Er küsste und liebkoste ihren Schoss. Und aus Ihr floss Liebe, floss wie ein ungebremster Strom hellen Lichtes. Lachen und Heiterkeit strömte aus ihrem Schoss, ihrem Herzen, den Poren ihrer Haut – es schien, als seien Schleusen geöffnet worden, von deren Vorhandensein sie nie etwas geahnt hatte. Sogar die Spitzen des Haarflaums auf den Armen schienen zu tropfen vor Glück.

 

„Du hast nie etwas gesagt, Geliebte, und ich wusste es doch. Du hast mir alles gegeben, ohne Hoffnung auf eigene Erfüllung. Du warst mein, die Du doch so viel mehr hattest sein wollen als nur ‚mein’. Unser Gespräch versiegte, als Du aufhörtest zu wünschen, zu träumen. Du hast geopfert – nicht feiwillig, jedenfalls nicht nur. Auch aus Mutlosigkeit und Scham hast Du geopfert. Aber Du warst treu darin. Dafür habe ich Dich immer geliebt – und konnte es doch nicht sagen, weil wir uns gar nichts mehr gesagt haben.“

 

 

Und er liebte sie, wie nie eine Frau von einem Manne geliebt werden kann.

 

 

Sie fand sich wieder, den Kopf im Schoss des fremden Priesters. Eine unbekannte und doch so vertraut scheinende Frauengestalt küsste sie auf die Stirne. „Nun hast Du doch noch meine Füße geküsst, Tochter“, lächelte sie. Und in diesem Lächeln tanzten tausend Sonnen voller Wärme und Liebe und Leben.

 

Da erkannte sie die Gottesmutter, erkannte sie in sich selber, dem Priester, in allem, was sie umgab.

 

Sie erhob sich, führte die Hände der Heiligen Mutter an ihre Stirne, küsste die blutenden des Priesters und ging wieder nach Hause.

 

Sie ging zu dem schweigsamen Mann, den sie geheiratet hatte, und der sie liebte, wie nie zuvor eine Frau geliebt worden war.

Sie ging zu dem Hof, den sie beide versorgten, wie man ein geliebtes Kind oder eine Mutter im Alter versorgt.

Sie dachte an die Kinder, die sie nicht mehr brauchten, die ihren eigenen Weg finden mussten zu dem Glanz, der in ihnen, der in allem wohnt.

Sie sah die Wiesen leuchten und nahm den Gruß der Gottesmutter in ihnen wahr. Sie sah ihre eigenen, von der Arbeit rauen und vernarbten Hände an, und wusste, auch diese waren ein Gruß: ein sichtbar gewordener Tribut an die Erde, von der sie lebten, die ihrer aller Mutter war, und der sie gedient hatte, so viele Jahre, treu, und es doch nicht gewusst hatte.

 

Sie dachte an die alten, freundlichen Augen ihres Mannes und daran, dass sie ihm alles sagen würde. Sie freute sich schon jetzt darauf, ihm alles erzählen zu können, doch noch, endlich!