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Über 80 Jahre

Ananda etwa 80 Jahre alt

„All das, was Dich einmal belastet hat, ebenso die Fehler, die du überwunden hast, all das wird gleichsam zu Humus, aus dem die Blumen innerer Vollendung wachsen“, sagte einmal Ananda zu mir. Dasselbe galt für Ananda. In den vergangenen Jahren hatte sich ein Großteil früherer, sorgenvoller Lebensbelastungen in tief verwurzelten Gottesglauben und in Abgeklärtheit verwandelt. Vergangene Not war mittlerweile nur noch Erinnerung, und das Leben war an ihr vorbei gewandert wie die Landschaft an einem Schiff.

In ihren schweren Zeiten waren für Ananda Gebete und Hinwendung zu Christus und Ramakrishna die Quellen ihrer Kraft. Sie gewann daraus die für den Alltagskampf erforderliche innere Stärke. In ihrem Leben bedurfte sie viel hiervon.
Jetzt war die Hinwendung zu Christus und den jenseitigen Yogis eine gleichbleibende innere Verbindung. Die ehemaligen Gebete der Not wurden zu einer Herzensverbindung, die ohne persönliche Wünsche war. Die Allgegenwart des Göttlichen hatte sich bewiesen und war als innerer Friede fühlbar. Anandas tiefreligiöse Kraft strahlte auf alle, auch auf mich in beeindruckender Weise aus. Ich erinnere mich an einen bewussten Traum, den ich zu jener Zeit hatte, als Ausdruck einer überirdisch schönen Welt, die in Anandas Gegenwart fast greifbar zu werden schien:

In späteren Jahren hat mir einmal ein Yogi folgendes erzählt: Guru Ananda gab eine Stunde. Es war ein niedergeschriebener Vortrag von einigen Seiten, den sie den Yogis vorlas. Alle in ihrem Kreis waren fasziniert. Am Ende der Stunde übergab Ananda dem Yogi die Unterlagen als Geschenk. Mit einigen seiner Freunde las er den Vortrag durch. Sie alle waren auf einmal sehr enttäuscht, denn der Inhalt der Vorlesung war einfach und altbekannt. Nun waren sie nachträglich auch von der Stunde enttäuscht. Noch während mir der Yogi darüber berichtete, stieg in mir folgende Erkenntnis auf: Die Erfahrungen Anandas aus ihrem langen und ereignisreichen Lebens wurden zu einer abgeklärten Essenz, die sie ausstrahlte. Das war die eigentliche Botschaft, die jenseits der Worte im Raum schwebte. Ich möchte einen Vergleich bringen: Wenn wir jemandem gegenüber sitzen, so sehen wir den Körper, aber nicht das Leben, das diesem Menschen innewohnt. Dennoch nehmen wir in der Begegnung in erster Linie das Lebendige wahr und nicht den Körper. So war es auch bei den Vorträgen Anandas. Die Worte und der Inhalt des Vortrages waren das weniger wichtige. Es war die Essenz ihrer inneren Kraft, die auf das Gemüt der Schüler wirkte und diese für einige Zeit verklärte und emporhob. Das Papier mit dem Vortrag war bestenfalls ein Andenken und für sich selbst nicht sprechend, so wie eine CD in unseren Händen keine Emotionen frei setzt, im Gegensatz zu der ihr innewohnenden Musik.

In den letzten Jahren wurde der Schleier, der diese Welt von der jenseitigen Welt trennt, für Ananda immer durchlässiger. Immer häufiger hatte sie visionäre Begegnungen mit jenseitigen Helfern.
Ananda teilte mir ihre Sichten mit, indem sie mich bat mein Notizheft zu holen. Dann diktierte sie mir das Erschaute. Ich halte dieses Notizheft in Ehren und bewahre es wie einen Schatz. So kurz die Botschaften darinnen bisweilen sind, so lassen sie dennoch in lebendiger Weise die Ereignisse der damaligen Zeit in mir aufleben. Sie zeigen Hoffnungen und Enttäuschungen sowie tiefen Glauben, Ehrfurcht und Liebe zu ihren Guruhelfern, die versuchten sie bei Enttäuschungen zu trösteten und sie in ihrer Tätigkeit als Guru anzuspornen. Damals, als ich das aufschrieb ahnte ich bei weitem nicht, wie sehr mich diese Aufzeichnungen Jahre später berühren würden.

Wenn ich so diese Zeilen durchlese, so freue ich mich über diese damaligen Ermunterungen zur Eigenständigkeit und Freiheit. Ich habe mich nie an Dogmen gebunden, sondern versucht alles zu hinterfragen. Solcherart habe ich viel gelernt.

Ein weiterer Grund und wahrscheinlich auch noch der wesentlichste, weshalb ich dieses Notizheft von Anandas Sichten wie einen großen Schatz aufbewahre und immer wieder liebevoll zur Hand nehme, liegt darin, dass beim Lesen vor meinem inneren Auge Guru Ananda mir fühlbar nahe ist, als eine kraftvoll strahlende Persönlichkeit!

Die starke Ausstrahlung Anandas war das Augenscheinlichste an ihr. Es war dies der Grund, weshalb immer mehr Menschen in den Ashram kamen, um hier zu lernen und zu bleiben. Bald war die Schüleranzahl derart stark angewachsen, dass sie die Infrastruktur des Ashrams überforderte. Als Ananda 80 Jahre alt war, zählte die Yogagemeinschaft mehr als zweihundert Schüler.
Das waren mehr Menschen als von Ananda und mir geführt und überblickt werden konnten. Es war nicht mehr möglich sich die vielen Details an Erfahrungen, Schwächen, Wünschen und Hoffnungen einzelner Schüler zu merken. Für eine gute Yogaführung ist das jedoch wichtig. Es gab schon frühzeitig Stellungnahmen in dem Sichtenheftlein dazu:

Leider hielten wir uns nicht an die wohlgemeinten Empfehlungen, weder Ananda noch ich. Erst Jahre später zeigte sich, dass das ein großer Fehler war. Der Ashram blähte sich auf. Mit der Schüleranzahl erhöhte sich nicht nur die Anzahl guter und loyaler Schüler sondern auch solcher, die weniger geeignet waren und die Moral und den Idealismus aushöhlten. Doch zu diesem Zeitpunkt hatte der Ashram bereits eine Eigendynamik, die nur noch schwer steuerbar war. Die Aufblähung des Ashrams beschleunigte sich weiter.

Ananda versuchte die unüberschaubare Gemeinschaft durch erhöhten Einsatz und stärkere Kontrolle zu lenken. Das erforderte immens viel Engagement und Kraft. Statt sich am Vormittag erholen zu können, während ich in der Arbeit war, saß sie mit ihren Assistentinnen (meist waren es Frauen aus dem Yoga) im Kaffeehaus, um die Stunden vorzubereiten. Am Abend erwartete sie eine Yogastunde in einem überfüllten Raum. Zumeist waren da neue Anwärter, auf die Rücksicht genommen werden musste. Man musste die Themen so wählen, dass sie sowohl für Neukommende als auch für fortgeschrittene Yogaschüler interessant und innerlich ergiebig waren. Ein Balanceakt, der nicht leicht zu bewältigen war. (Es gab keinen Kursbetrieb mit festgelegten Zeiten, denn das tiefere Wesen des Yoga wurde nicht nach intellektuellem Wissen oder erlernten Übungen bewertet. Es waren eher Charakter und die Tiefe der Gefühle und der Gottesausrichtung, was zählte.)

Ich vertrat eine andere Führungsstrategie als Ananda. Ich wollte den Ashram dezentralisieren und den Yogis mehr Kompetenzen übertragen. Ananda sträubte sich mit Nachdruck dagegen, aus Angst, dass die noch jungen Yogis bei der Aufnahme und Führung junger Anwärter zu große Fehler machen könnten.

Es ist verständlich, dass sich bei Ananda in einem Alter von über achtzig Jahren zunehmend Erschöpfung einstellte. Der Vormittag mit Organisationsfragen, Stundenvorbereitung und Hilfe beim Kochen war schnell vorbei und ließ kaum Zeit für einen kurzen Spaziergang. Ananda versuchte ihre Erschöpfung zu verbergen und wir ließen uns alle gerne täuschen. Sie wirkte dem Empfinden nach zehn Jahre jünger und strahlte nach außen dynamische Vitalität aus. Wunsch und Selbstbetrug verschmolzen in mir und in den Yogis und wir lebten in der Illusion, dass es ewig so weiter gehen würde.

Ananda überspielte alle Symptome der Erschöpfung und niemand merkte es. Dringend hätte sie jemanden benötigt mit der Befähigung eigenständig Stundeninhalte auszuarbeiten – ich unterrichtete parallel und stand deshalb nicht zur Verfügung. Es fand sich jedoch niemand, der mit Fantasie und Wissen eigenständig Stundenkonzepte und Ausarbeitungen gemacht hätte, denn für alle war Ananda die große Autorität, der niemand Vorschläge zu machen wagte.

Als Ananda zwischen 81 und 82 Jahre alt war, hatten fast alle führenden Yogis gleichzeitig ihren Studienabschluss. Sie hatten ihre eigenen Kreise und schienen in der Gemeinschaft fest integriert zu sein. Die wenigsten von ihnen jedoch waren aus Wien. Nach dem Studium mussten viele wieder zurück in ihr Bundesland. Yogis, an die man sich schon durch Jahre gewöhnt hatte, waren auf einmal nicht mehr da und hinterließen eine schmerzvolle Lücke. Auch für die anderen trat die Notwendigkeit in den Vordergrund Geld zu verdienen, nach Arbeitstellen Ausschau zu halten und sich dort einzuarbeiten. Das Leben wurde von neuen Verpflichtungen dominiert, das Studentenleben mit genügend Freizeit für den Yoga war vorbei.

Das und einige weitere Koinzidenzen zerrütteten die Yogagemeinschaft und innerhalb eines halben Jahres hatte sich diese bis auf einen kleinen Rest aufgelöst.

Es war für uns alle ein schwerer Schlag, zumal wir blind in die Zukunft hinein gelebt hatten und keine Vorkehrungen für derlei Situationen getroffen hatten. Heutzutage wundere ich mich über unsere Ahnungslosigkeit.

Für die Yogis begann eine Diaspora. Da war kein Ashram mehr, der ihnen als Heimat diente und in der Suche nach Gleichgesinnten und der Möglichkeit einer spirituellen Weiterentwicklung wendeten sie sich den verschiedensten Richtungen zu, vornehmlich den drei innerhalb des Ashrams etablierten Hauptströmungen Medjugorje, Buddhismus und Satya Sai Baba.

Die Yogis waren in alle Winde verstreut und nur im Herzen blieben wir vereint. Jetzt, da ich diese Zeilen schreibe, erinnere ich mich an einen Traum von heute Nacht, in dem mich einige Yogis von früher aufsuchten, wir uns freudig begrüßten und eine Weile beisammen waren. Kurz vor meinem Aufwachen verabschiedeten wir uns liebevoll unter Tränen.