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Das Speckschwartl

Speckschwartl war der Name eines Schlüssel-Lokals, das die Yogis als Treffpunkt aufbauten, um dort zu meditieren, zu essen oder einfach zu plaudern. Das Lokal wurde von Aravinda geführt, einer großartigen Sängerin und ebenfalls großartigen Köchin. Die Spezialität waren Speckbohnen.

In jener Zeit seiner Hochblüte entwickelte der Ashram eine eigene Kultur. Die meisten Initiativen kamen von den Yogis, aber auch Ananda und ich bemühten uns diese interne Kultur zu fördern oder zumindest durch Zuspruch zu unterstützen.

Guru Anandas Beitrag war die Förderung der Musik. Die Yogis bildeten eine Gruppe mit ausgezeichneten Instrumentalisten und guten Sängern. Eigene religiöse Lieder entstanden. Sie waren teils christlicher Prägung, mit der Marienverehrung im Mittelpunkt und teils wurden indische Heilige besungen. Für Außenstehende war es eine bizarre Mixtur von Heiligenverehrung. Auch die Lieder schwankten in ihrer Stilrichtung von Pop bis zu Kirchenmusik. Es war viel Kraft und Begeisterung dahinter und eine gemeinsame innere Ausrichtung. Das gab den Gesängen wieder eine gewisse Einheitlichkeit. Man kann sagen, die Gesänge und ihr Inhalt waren typisch für den Ashram: eine große Vielfalt, die wiederum durch gemeinsamen Idealismus und Zielsetzung zu einer Einheit gebündelt wurden. Ich will darüber etwas mehr schreiben:

Damals, als die östlichen Lehren und sonstige religiösen Praktiken angefangen von den Schamanen bis zu den Kabbalisten immer stärker in Mode kamen, waren wir alle, ob Gurus oder Yogis an all dem neu zugänglichen Wissen höchst interessiert. Wir wollten lernen, tiefer verstehen und an den Wundern teilhaben. Ja auch allgemein zugängliche Wunder bot die damalige esoterische Zeitenwende. Wundergeschehnisse, die man selbst miterleben konnte, wie etwa jene der Marienerscheinungen von Medjugorje oder die Materialisationen von Satya Sai Baba.

Die Yogis, die nach Medjugorje fuhren, sahen wie sich das Kreuz am Gipfel des Berges drehte oder sahen dort Lichterscheinungen. Wir hatten etliche Yogis im Ashram mit Slowenisch als Muttersprache. Diese führten die Gruppen aus unserem Ashram an, die dort hin pilgerten. Sie befreundeten sich mit den Seherinnen und sprachen mit ihnen über die Erlebnisse oder brachten mittels der Seherinnen an die Muttergottes ihre persönlichen Bitten oder Fragen vor. Die Yogis wohnten dort in privaten Unterkünften und es entstanden tiefe Freundschaften mit sehr herzlichen Beziehungen.

Was die Yogis anbelangt, die sich Satya Sai Baba zuwandten, so schien es, als würde Sai Baba sie bevorzugt beachten. Es erweckte so den Anschein und ich glaube gerne daran, vielleicht auch deshalb, weil ich unsere damaligen Yogis nach wie vor als seelisch ganz große Menschen sehe und sie liebe. Unsere Yogis wurden bei Satya Sai Baba zu Einzelgesprächen vorgelassen, dem einen materialisierte er einen Ring, dem anderen ein Armband und vielen von ihnen Vibhuti (sakrale Asche). Sie bekamen von Satya Sai Baba Segen und Ratschläge, kehrten glücklich nach Hause und erzählten uns darüber.

In jener Zeit verbreitete sich auch der tibetische Buddhismus und fand bei unseren Yogis ebenfalls gebührend Beachtung.

Diese Vielheit in den Orientierungen war von uns Gurus nicht bloß geduldet, sondern wurde gefördert. Ananda legte zwar größten Wert auf Disziplin, jedoch was Denken und religiöse Hinwendung anbelangte, so war es jedem gestattet sich auf seine individuelle Art zu orientieren, sofern eine hohe ethische Einstellung bewahrt wurde. Diese liberale Haltung hatte ja Ananda seit meinen Anfangszeiten im Yoga auch mir gegenüber. Ich vermochte mich dadurch in eigenständiger Weise zu entwickeln, was dazu führte, dass Ananda und ich uns im Yogaunterricht durch unterschiedliche Schwerpunkte großartig ergänzen konnten.

Obwohl ich intellektuell orientiert war, lebte ich zugleich in einer Märchenwelt. Es war wunderschön den sonst trockenen Alltag von Wundern durchwoben zu sehen. Das galt auch für die Yogis. Ich befürworte einen „romantischen Intellektualismus“ nach wie vor und sehe nicht ein, warum Intellektualität trocken und phantasielos sein sollte. Mein Glaube hat mich nicht daran gehindert mich der Welt zu öffnen und steht in keinem Widerspruch zu einer offenen und dogmatisch freien Wissenschaft.

Damals liebte ich so wie die Yogis beweiskräftige Wunder. Vielleicht war es nötig, um mich in meinem Glauben zu bestärken. In kleinen Ansätzen begann ich jedoch unbewusst zu erkennen, dass es weniger dramatische, dafür um so schönere Wunder in unserer Alltagswelt zu finden gibt, vorausgesetzt, dass wir uns den Geschehnissen um uns in einer inneren Wachheit öffnen. Folgende Begegnung aus damaliger Zeit ist mir noch gut in Erinnerung:

Ich stand an einer Straßenbahnstation, als mich ein Mann von ungefähr 40 Jahren ansprach: "I bin east an Daug aus'n Hefn..." Lassen wir ihn lieber in gutem Deutsch sprechen, vielleicht liest ja einmal jemand diese Zeilen, der oder die im Wiener Dialekt schlecht bewandert ist – allerdings gebe ich zu, dass ich Hochdeutsch in diesem Zusammenhang grotesk finde; aber es soll so gut sein. Also er sagte: "Ich bin erst einen Tag aus dem Gefängnis und habe kein Geld. Könnten sie mir etwas für einen Straßenbahnfahrschein geben?"
Ich gab ihm so zirka fünf Schilling. Das war nicht viel, aber auch nicht knausrig. Der Mann strahlte im Gesicht vor Freude auf: "oh, danke Chef, wenn sie mal Diamanten brauchen, dann kommen sie zu mir, ich bin der Diamantenwikerl". Wikerl ist die Wiener Namensvariante von Viktor. Dieser Mensch hatte mich beeindruckt. Warum? Weil er ein offenes Herz hatte. Ich habe damals irgendwie gefühlt, dass mir jener Mensch durch seine Spontanität und Offenheit einiges voraus hatte.

Bis auf solche gelegentlichen Lichtblicke war ich noch sehr introvertiert und verschlossen. Dazu fällt mir wiederum ein Beispiel ein, das zeigt wie blind ich damals war und ich gar nicht auf die Idee kam, dass etwas anders laufen könnte, als ich es gerade selber im Kopf hatte:
Am Sonntag wanderten wir, etwa zwanzig Yogis und ich, egal ob Sommer oder Winter. Mit der Karte in der Hand suchten wir uns bis zu einem Umkreis von zirka 60 Kilometern Wandertouren aus. So eine Wanderung dauerte meistens vier Stunden ohne Fahrzeit. Danach gab es zumeist das obligate Eisessen, wobei von jedem einzelnen von uns zwei bis drei der größten Portionen verschlungen wurden.

Einmal waren wir in den Donauauen wandern und kamen auf dem Rückweg zum Ölhafen. Vielleicht war es einmal ein Hafen, so wie der Name sagt, aber Schiffe waren dort keine. Die legen wo anders an. Jedenfalls handelt es sich bei dem Ölhafen um einen breiten, toten Seitenarm der Donau. Es war gerade Hochsommer und wir waren alle bei unserer Wandertour nur mit einer Badehose bekleidet und mit Badeschuhen. Natürlich war das Wasser für uns enorm einladend und es hieß sofort: "wir schwimmen zum anderen Ufer". Es gab dort für Ölleitungen ein überbrückendes Gerüst, auf das eine Stahlleiter zu einem schlecht begehbaren Laufsteg hoch über dem Wasser führte. Drei Yogis kletterten da rauf und überquerten auf dem Gerüst den Donauarm. Ich wunderte mich über diese ausgefallene Idee der Überquerung. Dass diese drei Yogis aber diesen Weg wählten, weil ihnen die Schwimmstrecke zu weit war und sie Angst hatten zu ertrinken, das wäre mir damals nie und nimmer eingefallen.

Zu meiner großen Freude war unter unserer Wandergruppe immer ein Yogi, der botanisch überaus gut bewandert war und mit dem ich gerne über die diversen Pflanzenfunde diskutierte. Kräuter, Blumen und Bäume waren für mich schon seit meiner Jugend eine von mir geliebte phantastische Welt. Später führte diese Vorliebe zu einer vertieften Sichtweise in Richtung kosmischer Liebesmystik. Diese Sichtweise versuche ich auch anderen zu vermitteln.
Hierzu einige Zeilen einer Yogini aus der jetzigen Zeit: