Jugenderlebnisse

 

 

 

    Die Schulbank

 

    Als ich knapp vor meinem 6. Lebensjahr stand, führte mich mein Großvater, der damals in mehreren Schulen unterrichtete, zu meiner zukünftigen Schule. Es war ein ziemlich langer Weg und mein Großvater war diesmal sehr schweigsam, wo er doch sonst oft mit mir scherzte.

   

    Endlich erblickten wir ein kleineres, gelbes Gebäude. Da riss ich mich von meinem Großvater los und lief schnurstracks in dieses Haus hinein. Dort waren viele Türen, aber ich ging geradewegs auf eine bestimmte Türe zu und setzte mich in die erste Bank. Ich weiß noch, dass ich plötzlich sehr fröhlich war.

    Als mein Großvater etwas atemlos eintrat, nachdem er mich überall gesucht hatte, rief ich ihm zu: „Großvater, da bin ich schon immer gesessen!“

    Da setzte sich der Großvater zu mir und Tränen rollten in seinen weißen Bart. Ich konnte mir das damals nicht erklären. Vor allem waren mir seine Worte unverständlich, als er sagte: „Ja, ja, doch damals warst du ein Knabe.“

 

    Viel später begriff ich, was er damit meinte. Er hatte vor 6 Jahren seine geliebte Tochter und Enkelsohn an einem Tag durch einen Unglücksfall verloren. Dieser Enkelsohn war damals schon ein paar Wochen zur Schule gegangen und saß in dieser ersten Bank und in eben dieser Klasse. Mein Großvater, der an die Reinkarnationslehre glaubte und hellsichtig veranlagt war, sah in mir den wiedergeborenen Enkel.

 

Über die Seelenentwicklung – chassidischer Spruch:

Vom Stein zum Kraut,

vom Kraut zum Strauch,

vom Strauch zum Baum,

vom Baum zum Tier,

vom Tier zum Menschen,

vom Menschen zum Engelwesen.

 

 

 

 

 

 

    Der Stein in der Ruine

 

 

    Als Achtjährige machte ich mit meinem Großvater einen Ausflug zu einer bekannten Ruine. Es war ein sehr heißer Sommertag. Von der Ruine waren nur große Steine und der halbzerfallene Schlossturm übrig geblieben.

    Wir stiegen auf eine kleine Anhöhe und als ich hinunter schaute, sah ich einige große Gestalten auf einem Stein sitzen. Plötzlich durchbrach die sommerliche Hitze ein lang gezogener Klagelaut und in diesem Moment waren auch die Gestalten vom Stein verschwunden. Wir sahen uns um und suchten, woher der Klagelaut käme. Es war weit und breit niemand zu sehen. So gingen wir schweigend nebeneinander her und da ich ein großes Vertrauen zu meinem Großvater hatte, erzählte ich ihm von den Gestalten, die ich gesehen hatte. Daraufhin erzählte mir der Großvater die Geschichte dieser Ruine.

 

   Hier hatte einst ein sehr grausamer Schlossherr gelebt, der sein Gesinde schlecht behandelte und sie für Vergehen auspeitschen ließ. Der Großvater sagte mir auch, dass dieser große Stein einst im Schlossverlies stand. Auf ihm saßen viele Menschen oft Wochen bei Wasser und Brot und Prügelstrafen wegen kleiner Vergehen. Damit schloss mein Großvater die Erzählung.

 

    In diesem Stein, erzählte er mir ergänzend, sind ungezählte Schreckensträume und bitterste Klagen eingraviert. „Da du ein hellsichtiges, sensitives Kind bist“, fügte er hinzu, „hast du die Leiden der Vergangenheit sehen und hören können.“

 

    Obwohl dieses Erlebnis nun schon Jahrzehnte zurück liegt, ist es mir dennoch so lebendig gegenwärtig, als wäre es erst heute geschehen.

 

 

 

    Der Tod ist nicht das Ende

 

    Es war damals mein neunjähriger Geburtstag. Nach der Geburtstagsfeier nahm mich mein Großvater bei der Hand und sagte: „Nach all den Freuden, die du zu deinem Geburtstag empfangen hast, wollen wir nicht vergessen, dass alles Irdische vergänglich ist. Deshalb werden wir den alten Friedhof besuchen.“

    So nahm ich denn meine sorgfältig verwahrten, schön gewaschenen Steinchen und wir machten uns auf den Weg.

   Es ist ein Brauch aus der Wüste, dass an Stelle von Blumen Steinchen zum Grab gelegt werden. Da ich mit meinem Großvater öfters zum Friedhof ging, hatte ich immer solche Steinchen vorbereitet.

 

    Viele Grabstätten dort kannte ich schon. Am liebsten war mir jedoch die eines 16 jährigen Bocher (Rabbischüler), da ich seine Geschichte kannte und sie sehr traurig war. Dort betete ich immer am inbrünstigsten.

    Wir standen schweigend an der Stätte. Das Erlebnis, das ich dann hatte, ist obwohl so viele Jahre inzwischen verstrichen sind, nach wie vor ganz lebendig in mir.

 

    Niemand war am Friedhof, außer Großvater und ich. Da hörte ich ein mächtiges Rauschen und dachte zuerst an einen Platzregen – doch da stand greifbar vor dem runden Stein der Stätte eine strahlende Jünglingsgestalt. Sie sah mich an und sprach ganz deutlich: „Der Tod ist nicht das Ende!“

 

    Wie festgewurzelt stand ich da und streckte der Strahlengestalt meine Hände entgegen. Mein Großvater verstand mich, noch bevor ich das erschütternde Erlebnis mitteilen konnte. Ich konnte niemals erfahren, ob mein Großvater auch die strahlende Gestalt gesehen und die deutlichen Worte vernommen hatte.

 

 

 

 Vorausgesehen

 

    Als ich ungefähr neun Jahre alt war, ging ich mit noch zwei jungen Mädchen zu einer Handarbeitslehrerin, die Frau Tina hieß und mit zwei Schwestern zusammen lebte. Ich war in Handarbeit die Unbegabteste, doch ich gab mir redlich Mühe der Frau Tina Freude zu bereiten. Handarbeitsstunden waren immer donnerstags von 4 bis 6. Einmal kam der Großvater und sagte: „Heute ist keine Handarbeitsstunde, Frau Tina ist krank.“

    Ich wollte sie gleich besuchen, doch der Großvater winkte ab. So vergingen einige Tage. Eines Morgens wurde ich früher als sonst geweckt und der Großvater sagte: „Frau Tina wünscht dich zu sehen.“

    Er gab mir ein paar Blumen und sagte mir, ich möge mich still verhalten, es gehe der Frau Tina schlecht. Vielleicht ruft sie Gott bald zu einem besseren Leben.

    Ich erschrack und weinte den ganzen Weg leise in mich hinein. Der Großvater ließ mich gewähren, doch vor dem Haus ermahnte er mich ein freundliches Gesicht zu machen und ja nicht zu weinen.

 

    So kamen wir zur Frau Tina und die jüngere Schwester öffnete uns. Wir traten still an ihr Bett, sie schien zu schlafen. Auf einmal öffnete sie die Augen und sagte: „da bist du ja“ und nahm meine Hand.

    Ich schluckte tapfer und erinnere mich noch als ich sagte: „Ich werde heute noch beginnen den zweiten Turm des Polsters zu sticken, damit ich ihn Donnerstag herzeigen kann.“

    Sie lächelte und sagte: „Ja, zeige ihn Frau Karoline.“ Karoline war ihre Schwester.

    Ich verstand sehr gut, was das bedeuten sollte. Großvater drängte zum Abschied, da fiel mein Blick auf die daneben stehende Schwester und ich sah sie deutlich an Stelle der Frau Tina still liegen. Ich war zutiefst erschrocken.

 

    Am Heimweg erzählte ich dies meinem Großvater.

    Er widersprach nicht und trug mir auf darüber zu schweigen, falls ich richtig gesehen hätte.

    Abends bat ich um eine Kerze, damit ich den Polsterturm fertig sticken könne. Er schenkte mir eine und holte sie wieder um Mitternacht, damit ich schlafen gehe.

 

    Niemand in unserem Hause wusste um unser Geheimnis. Am nächsten Abend stickte ich weiter bei Kerzenschein. Ich erfuhr nicht wie es Frau Tina ging. Am dritten Tag war der Polster fertig. Da kam abends ein Rabbischüler zum Großvater und sagte, dass es Frau Tina gut gehe und die Krisis vorbei wäre, aber ihre Schwester Karoline sei vor einer Stunde an einem Herzschlag erlegen.

    Der Großvater betete und trug mir auf, niemand etwas zu sagen, denn, und das verstand ich damals noch nicht, ich sei eine uralte, wiedergeborene Seele, die Voraussehen mitbekommen habe. Doch man soll darüber nicht sprechen.